Heuerleute im südlichen Münsterland – Beitrag von Dr. Christof Spannhoff

Die schlechte wirtschaftliche und soziale Lage in den Kreisen Steinfurt und Tecklenburg wirkte sich Anfang des 19. Jahrhunderts begrenzend auf die Bevölkerungsentwicklung aus, da kaum wirtschaftliche Grundlagen zur Gründung einer eigenen Familie vorhanden waren. Der relative Rückgang der Verheirateten an der Gesamtbevölkerung bewirkte eine Geburtenabnahme. Hinzu kam die in den 1830er Jahren einsetzende Auswanderungswelle, die ebenfalls die Zahl der Eheschließungen negativ beeinflusste, da vor allem junge Menschen im heiratsfähigen Alter oder junge Familien das Kreisgebiet verließen.

Die im 17. und 18. Jahrhundert entstandene unterbäuerliche Schicht der sogenannten Heuerlinge konnte weder ökonomisch noch sozial in die traditionelle gesellschaftliche Ordnung integriert werden. Heuerlinge waren Personen,  die in dem Heuerhaus eines Bauernhofes lebten. Für ihre Wohnung und ein Stück Hofesland mussten sie den Bauern bei der Bewirtschaftung des Hofes entgeltlos unterstützen. Die im 18. Jahrhundert  stark angewachsene Gruppe der Heuerleute sprengte die überkommene Wirtschafts- und Sozialstruktur, weil die Heuerleute nicht mehr zu der Gruppe der Bauern gehörten, da sie keine primäre landwirtschaftliche Grundlage durch Eigenbesitz an Grund und Boden aufwiesen und auch in rechtlicher Hinsicht (etwa der fehlende Anspruch auf Markennutzung) schlechter gestellt waren. Die Gruppe der Heuerleute war entstanden aus dem Missverhältnis von Bevölkerungszahl zu verfügbarem Acker- und Nutzland. Die Heuerlinge, die einen eigenständigen Haushalt führten, schlossen gesellschaftlich an die kleinsten Grundbesitzer an, standen aber über dem Gesinde, das einem Hof gehörte. Hinzu kam, dass die Heuerleute einen sehr differenzierten sozialen Hintergrund hatten, waren sie doch nicht erbberechtigte Nachkommen aus allen bäuerlichen Sozialschichten. So bemerkt der Tecklenburger Hoffiskal August Karl Holsche in seiner Beschreibung der Grafschaft Tecklenburg bereits 1788 treffend: „Auf der sozialen Stufenleiter steht der Heuerling […] ganz unten an. Als Leibeigener gehört er zu dem, was man das wilde Eigentum nennt, weil er keine eigene Stätte besitzt und nicht hinziehen kann, wohin er will.” Es darf allerdings nicht übersehen werden, dass in diesem Abhängigkeitsverhältnis, das seine rechtliche Grundlage aus dem System der Eigenbehörigkeit übernahm, auch ein Schutzanspruch des Heu-erlings gegenüber seinem Bauern enthalten war. Erst mit der Aufhebung dieses sozialrechtlichen Abhängigkeitsverhältnisses — im Kreisgebiet erfolgte dies durch das „Dcret concernant l’abolition du servage” vom 12. Dezember 1808 — stieg die soziale Gruppe der Heuerlinge auch formalrechtlich in den Status der ländlichen Unterschicht ab, da sie keinen Landbesitz hatte, der nun aber als Maßstab für den sozialen Rang an die Stelle der vormaligen persönlichen Rechtsstellung trat. Die ländliche Unterschicht wurde Anfang des 19. Jahrhunderts zudem noch durch das Gesinde vergrößert, das im Zuge der Abschaffung der nun zu kostspielig gewordenen Gesindehaltung freigesetzt wurde. Zudem wurde diese soziale Gruppe durch die nicht erbberechtigten Bauernkinder aufgefüllt.

Durch das Heuerlingssystem konnten die vom Hof abgehenden Nachkommen des Bauern und das vormalige zum Hof gehörige Gesinde als Heuerleute dem Wirtschaftsverband des Hofes als kostenlose Arbeitskräfte erhalten bleiben. Auf der anderen Seite bot der Erwerb einer Heuerlingsstelle die Möglichkeit, eine eigene Familie zu gründen. Vor allem ehemalige Knechte und Mägde, denen zuvor die Eheschließung als Gesindeglieder versagt gewesen war, nutzten diese Möglichkeit.

Somit stieg die Zahl der Heuerlinge Anfang des 19. Jahrhunderts stark an. 1828 waren im Kreis Tecklenburg von insgesamt 7062 Familien 70,7 Prozent (4994) in der Landwirtschaft beschäftigt.

Wiederum ein gutes Drittel davon (1753) machten die Heuerlingsfamilien aus.

Besonders in den Gemeinden Schale, Dreierwalde, Hopsten und Riesenbeck vollzog sich ein starker Ausbau der Heuerlingsstellen, indem diese von 1816 bis 1828 um 60 Prozent zunahmen. Durch dieses starke Wachstum kam es zu einem immer größer werdenden Defizit an Nahrungsgrundlagen. Die Heuerlinge schränkten also durch ihr Anwachsen ihre eigenen Wirtschaftsgrundlagen immer mehr ein. Dadurch entstanden eine starke Konkurrenzsituation und eine erhöhte Nachfrage nach Ackerland bei den klein- und unterbäuerlichen Schichten. Deshalb stiegen die Kauf- und Pachtpreise für Grund und Boden in erheblichem Maße. Nur durch Nebenerwerbstätigkeit konnten neue Flächen gepachtet und gleichzeitig eine starke Verschuldung verhindert werden. Jede weitere Einschränkung der Nahrungsgrundlagen der klein- und unterbäuerlichen Schicht, die 1825 86,1 Prozent der ländlichen Bevölkerung ausmachte, traf diese in existenzgefährdender Weise.

Dieser Beitrag wurde veröffentlicht in: Wege in die Geschichte des Kreises Steinfurt, Steinfurt 2016, Seite 34/35

Viehzucht vor 200 Jahren – Beitrag von Dr. Christof Spannhoff