Die Kinder der Heuerleute (Ulrich Riedell)

Die Kinder wachsen zwanglos in die Arbeitswelt der Eltern hinein. Das Vielerlei an Tieren auf engem Raum, die vielen Gänge, die zu deren Pflege erforderlich sind, lassen Sachkenntnis und Pflichtgefühl heranreifen. Was die Kinder tun, verrichten sie aus Liebe zum Tier und aus Einsicht in die Notwendigkeit, nicht als Arbeitnehmer ihrer Eltern.  Die törichte Angewohnheit, Kindern für jeden Handschlag in Haus und Garten Geld zu geben, ist in einer gesunden Kleinbauernfamilie nicht eingerissen. Neben ihren eigentlichen Diensten  haben sie ein offenes Auge für das, was sozusagen “extraordinär” anfällt: Schweine und Kälber brechen aus, Kühe sind ohne Wasser, der Hühnerstall ist versehentlich nicht geschlossen.

Eine scharfe Grenze zwischen Erwachsenen und Kindern gibt es nicht; diese sind bei allen Gesprächen mit Nachbarn, Viehhändlern und Handwerkern dabei, und nichts von dem, was am Tage gesprochen wird, entgeht ihrer Aufmerksamkeit. Erreichen sie das Flegelalter, so werden die Jungen dennoch keine Flegel, weil es in Elternhaus und Nachbarschaft keine Erwachsenenautorität gibt, gegen die aufzumucken sie Anlaß hätten, denn mit jedem Eingesessenen stehen sie von Anfang an auf “du und du” , die Männer sind allesamt “Onkel”, und jede Frau ist “Tante”. Gegenüber ihrem Lehrer in der Schule wissen sie, “was sich gehört”, aber falls der Nachbar zufällig Lehrer ist, wird er gleichwohl  ist, wird er gleichwohl Nein, Flegel sind sie nicht, die Jungen im Konfirmanden­ alter, aber ihre geübte Beobachtungsgabe läßt sie an den   Erwachsenen manche Eigenart und Schwäche erkennen, heiteren Gesprächsbeiträgen im Familienkreis und den Gästen befähigt.

 Da auf dem Hof des Großbauern kein Bedarf an Kinderhilfe besteh· und außer dem “offiziellen” Kinderspielplatz mit gekauftem Gerät kein unaufgeräumter und ungenutzter und also die Phantasie anregender Ort geblieben ist , verstädtern diese Kinder. Wie schon erwähnt, sind sie nachmittags oft unterwegs oder sie sitzen hinter ihren Schularbeiten oder vor dem Fernsehschirm, und die Mühe um die Gestaltung der Sommerferien nimmt ihnen die Reise an die See weitgehend ab. In der Schulbildung besteht  zwischen Bauern und – Häuslingen klarer Unterschied, die Elterngeneration besuchte fast ausnahmslos die gleiche Dorfschule. Heute gehen die Bauernkinder vorwiegend in die Realschule, aber auch in die Volksschule und nur selten erfolgreich aufs Gymnasium. Die Häuslingskinder besuchen größtenteils die Volksschule, in einigen Fällen die Realschule. Nur ein Akademiker, ein promovierter  Landwirtschaftslehrer, ging in diesem Jahrhundert aus dem Dorf hervor; er kam aus  der alteingesessenen Häuslingssippe Alfke.      

Wenn die Kinder aus Kleinbauernfamilien sich bislang auf dem Gymnasium wenig bewähren so liegt das erst in zweiter Linie daran, daß ihnen zu Haus oft Platz und Ruhe zum Arbeiten fehlen. Der Hauptgrund dürfte sein, daß ihr praktisches, umwelt­ und gegenstandsbezogenes Denken nicht plötzlich in abstrakte Bahnen gelenkt werden kann. Viele Begriffe , die linder aus an­ deren Ständen sich angelesen haben bzw. durch den reicheren Sprachschatz der Eltern vermittelt bekamen, fehlen einfach. Zwar hatte der Grundschullehrer recht , wenn er urteilte , daß dieses und jenes Kind “nicht auf den Kopf gefallen” ist, trotzdem beginnt es nach hoffnungsvoller Grundschulzeit im Gymnasium  still zu werden, es sitzt den ganzen Nachmittag, der ohnehin   durch die Fahrerei verkürzt ist, ohne sonderlichen Erfolg bei den Schularbeiten, es verliert die Verbindung zur Arbeit der Eltern; es wird kein rechter Gymnasiast und ist kein echtes Bauernkind mehr. Der Bildungsoptimismus unserer Tage hatte völlig falsche Hoffnungen geweckt.

Aber zum Glück finden die meisten Kinder dieser Schicht den richtigen Weg ins Handwerk.

Ein Schulanfänger fährt den Schlepper zum Melkstand, treibt die Kühe zusammen, schüttet Futter ein, stellt die Gefäße bereit, schließt das Stromkabel an, so daß die Mutter bei ihrer Ankunft sogleich mit dem Melken beginnen kann. Einmal sitzt er, der Siebenjährige, ganz allein bis in die Nacht bei der Sau und hilft ihr, die 12 Ferkel zur Welt zu bringen. Und während die Eltern unten am Bach das letzte Heu zusammenforken, pflügt oben der Neunjährige das Stoppelfeld für die Wintersaat. Bei der Handarbeit auf dem Feld, bei der Kartoffel- und Rübenernte sowie beim Heuen sind die Kinder wie in vergangenen Tagen mit viel Zuruf, Lachen und Geschrei dabei. Und sehen sie einen Nachbarn bei der Arbeit, sind sie oft ungerufen zur Stelle, bemerken sogleich, wo Hilfe nötig ist, laufen ungefragt nach Haus um den fehlenden Drahtspanner oder den genau passenden Schraubenschlüssel zu holen.

Fast unmerklich ist bei den Kindern der Übergang von Arbeit und Helfen zum Spiel. Spielplatz und Spielgerät zeugen von unerschöpflicher Phantasie, die bei den Stadtkindern längst verkümmern mußte. Die Kinder dürfen alles und tun auch alles, was sie wollen. Werkzeug und Materialien aller Art schleppen sie zusammen. Da prüft niemand die Sicherheit der Schaukel und des selbstgebastelten Handwagens, keiner stört sie bei der Anlage ihrer eigenen, höhlenartigen “Räumlichkeiten” hinter der Scheune. “Wenn meine Kinder doch auch so spielen würden!” meinte kürzlich ein erfolgreicher Pädagoge beim Anblick solch schöpferischen Kindertreibens.

So sind die Häuslingskinder geschickt zu jeder praktischen Tätigkeit in Arbeit und Spiel. Sie lernen von der Anschauung her, sie beobachten genau die Erwachsenen, und, falls sie den Zweck einer Tätigkeit nicht einsehen, fragen sie und zeigen eine für Uneingeweihte lästige Neugier.  Die Erziehung verläuft kaum.

aus

Das Häuslingswesen und sein Ende im Kreis Grafschaft Hoya unter besonderer Berücksichtigung  des Dorfes  Jardinghausen

Dissertation zur  Erlangung des Doktorgrad es der Fakultät für Geistes und Staatswissenschaften der Technischen Universität  Hannover

vorgelegt von Ulrich Riedell, geboren am 24. 0ktober 1915 in Hammeleff, Kr. Hadersleben

Diese Arbeit liegt maschinenschriftlich vor.