Das Heuerlingswesen in Isselhorst (2) von Siegfried Kornfeld

Hier handelt es sich um eine Fortsetzung des ersten Teiles:

In der Ausgabe 142 hatten wir an bebilderten Beispielen aus dem Kirchspiel auf das in den 60-er Jahren des letzten Jahrhunderts innerhalb weniger Jahre völlig verschwundene Heuerlingswesen hingewiesen und hatten uns vorgenommen, in den Folgeausgaben diese bäuerliche Sozial- und Wirtschaftsstruktur näher zu untersuchen. In dieser Ausgabe wollen wir der Frage nachgehen, in welchem geografischen Bereich es das Heuerlingswesen gab und den Zeitraum seiner Entstehung und seines Niedergangs beschreiben. Beginnen wollen wir diesen Beitrag mit dem Bericht eines ehemaligen „Hüssenkiends:“

„Wir hatten ein Pferd, Lotte hat uns getragen zum weit entfernten Feld gezogen. Bei schweren Arbeiten auf dem Feld konnten wir immer das Pferd Max vom Nachbarn dazu holen, Lotte kannte den Weg nach Haus immer und wir konnten uns auf den Wagen hinlegen und ausruhen oder von den geernteten Früchten essen, ohne auf den Weg achten zu müssen. Es gab keine Autos oder Traktoren, die unser Pferd erschrecken oder den Weg versperrten. Und wenn uns ein Gespann entgegen kam, hielten die Pferde von sich aus an der Stelle an, wo sich die Wagen gegenüber standen. Alle Pferde wussten, dass die Menschen jetzt ein längeres Gespräch führen wollten Die Zeit dafür war immer da.

Das war auch Reichtum.

Zu Hause lebten wir mit den Tieren unter einem Dach, nur getrennt durch eine klapperige Tür mit Glaseinsatz. Die Kuh hat uns jeden Tag mit Milch versorgt und die Sau brachte jedes Jahr ein Dutzend Ferkel zur Welt, die wir auf dem Markt für gutes Geld verkaufen konnten. Die Hühner legten so viele Eier, dass wir diese in der Stadt gegen Dinge, die wir selbst nicht herstellen konnten, eingetauscht haben. Zusammen mit den Früchten vom Feld und den geernteten Sachen aus einem großen Garten war das ein solcher Reichtum, dass keine der acht Personen aus vier Generationen, die im Heuerhaus wohnten, die eigene Arbeitskraft verkaufen musste.

Die Badeanstalt war kostenlos, ein Bach mit kristallklarem Wasser konnten wir den ganzen Sommer nutzen und mussten diesen nur mit. den Fischen teilen.

Spielsachen wie Stelzen, kleine Wagen, Haselnussflöten, geflochtene Körbe, Kränze, Pfeil und Bogen, Gummifletschen und vieles mehr haben wir zusammen mit den Eltern, Großeltern und dem Urgroßvater selbst gebastelt. Fast alle Materialien dazu konnten wir grenzenlos aus der Natur entnehmen. Mit diesen Sachen waren wir reich und brauchten kein Geld.

Ais dann die ersten Autos durch unser Dorf fuhren, haben viele gedacht, das müssen reiche Menschen sein, es hat sich herausgestellt, das war für die meisten Menschen der Beginn der Armut.“

Bericht von Heinrich Lübbers, geboren in einem Heuerlingshaus.

Die Idylle, die als „Reichtum“ hier beschrieben wird, ist wohl nur aus der Erinnerung an die eigene Kindheit des Heinrich Lübbers zu verstehen. Die Quelle, der wir diesen Bericht entnommen haben, gibt nicht her, wo das Heuerlingshaus des Heinrich Lübbers gestanden hat (In der Grafschaft Bentheim – Anmerkung von Bernd Robben).

Die Strukturen des Heuerlingswesens waren aber überall dort, wo wir diese soziale Schicht der Heuerlinge antreffen, vergleichbar, so dass dieser Bericht auch aus dem Kirchspiel Isselhorst hätte stammen können. Das Heuerlingswesen gab es nur in Nordwestdeutschland in einem ziemlich genau zu beschreibenden Bereich. Seinen Schwerpunkt bildete das nördliche Münsterland, der ehemalige Regierungsbezirk Minden mit den Kreisen Minden, Lübbecke, Halle, Herford, Bielefeld, Wiedenbrück und des nördlichen Kreises Paderborn. Im südlichen Kreis Paderborn und dem Sauerland, den Kreisen Höxter und Warburg konnte es sich dagegen nicht durchsetzen.[2] Der Anteil der Heuerleute an der Gesamtbevölkerung war in den rein ländlichen Gebieten, z. B. des Emslandes oder des Fürstentums Osnabrück sehr hoch und betrug um 1800 zwischen 40 und 50%.

So hohe Anteile an der Gesamtbevölkerung gab es hier bei uns aber nicht: nach groben Schätzungen anhand der Bevölkerungszahlen um 1818 und der noch bestehenden Heuerlingsstellen 1946 und unter Annahme einer Haushaltsgröße von 7 Personen je Haushalt erreichte der Kreis Bielefeld einen Anteil von etwa 7 – 8%, der Kreis Halle immerhin einen Anteil von mehr als 20% und der Kreis Wiedenbrück einen Anteil von knapp 6%. Um an genauere Zahlen zu kommen, müsste allerdings aufwändig recherchiert werden.

Das Heuerlingswesen entstand im ausgehenden 16. Jahrhundert, insbesondere aber nach dem 30-jährigen Kriege. Die nach den Pestepidemien und besonders nach den Verheerungen des 30-jährigen Krieges stark dezimierte Bevölkerung erholte sich nach und nach wieder. Diese Bevölkerungszunahme führte dazu, dass die wüst gefallenen Höfe zunächst auf Druck der jeweiligen Herrscher wieder neu besiedelt und bewirtschaftet wurden. Es wurden auch neue Hofstellen gegründet. Schon bald gab es jedoch nicht mehr genügend landwirtschaftlich nutzbare Flächen, um weitere neue Hofstellen zu gründen. So mussten die nicht erbenden Söhne[1] oft auf den väterlichen Höfen bleiben, erhielten in den Altenteilerhäusern oder anderen Nebengebäuden eine Unterkunft und ein kleines Stück Land zur Nutzung. Sie konnten zur Bewirtschaftung der Flächen die Gespanne des Hofes mit einsetzen. Aber sie erhielten das Land und das Gebäude eben nur zur Nutzung und nicht zu eigen. Die Nutzung der Flächen, der Gebäude und die Überlassung der Gespanne musste durch die so genannte „Heuer“ abgegolten werden und zwar nicht mit Geld, sondern mit Arbeitsleistungen. So entstand ein System gegenseitiger Hilfeleistung, das Heuerlingswesen: der nicht erbende Sohn bekam eine Existenzgrundlage, für die er bei dem Hoferben Leistungen zu erbringen hatte. Dadurch bekamen die Höfe bodenständige – heute würde man sagen qualifizierte – und verlässliche Arbeitsleistungen, zunächst unter Verwandten. Schon bald aber waren es nicht nur Verwandte, die die Heuerlingsstellen besiedelten, sondern es entwickelte sich in gewisser Weise ein Markt. Die Übernahme einer Heuerlingsstelle beruhte nicht mehr auf verwandtschaftlichen Bindungen. Das bedeutete aber, die Bedingungen der Übernahme waren verhandelbar und wurden in Verträgen genau festgelegt. Durch Zunahme der Bevölkerung stieg die Nachfrage nach solchen Heuerlingsstellen. Die Menschen, die eine Heuerlingsstelle übernahmen, hatten keine Alternativen (Auswanderung, Industrialisierung) zu dieser Art der Existenzsicherung. So saßen die Heuerlinge bei der Festlegung der Vertragsbedingungen stets am kürzeren Hebel. Zudem waren die Verträge auch jederzeit kündbar und von diesem Kündigungsrecht wurde Gebrauch gemacht, wenn die Heuerlingsfamilie ihren vertraglichen Verpflichtungen nicht oder nicht genügend nachkam.

Rund 300 bis 350 Jahre dauerte das Heuerlingswesen an. In den fünfziger und sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts wurden die Heuerlingsstellen jedoch aufgegeben. Die Häuser wurden z. T. schnell abgerissen, da sie vielfach in schlechter Qualität errichtet und oft in baufälligem Zustand waren. Die Gebäude, die stehen blieben, wurden in den nächsten zwanzig Jahren aufwändig restauriert und ausgebaut. Da sie sich in ihrer Architektur von den Siedlungshäusern qualitativ unterschieden und oft auch in der freien Natur standen, wurden sie zu begehrten Wohngebäuden. Oft wurden sie von den Höfen abgetrennt und verkauft. Der soziale und wirtschaftliche Bezug zu den Höfen ging damit völlig verloren.

Die Ursache für den raschen Niedergang des Jahrhundertealten Heuerlingswesens findet sich in der aufblühenden Wirtschaft nach dem Ende des zweiten Weltkrieges. Die Industrie zahlte höhere Löhne, das Preisniveau für Erzeugnisse aus der Landwirtschaft stagnierte, die Arbeitskräfte wanderten aus der Landwirtschaft ab. Wer da meinte, die alten Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Hof und Heuerling konservieren zu können, hatte die Zeichen der Zeit nicht erkannt: „Wecka bi us in’n Kuoden wuenen will, de mott sik na us richten!“ („Wer in unserem Kotten wohnen will, der muss sich nach uns richten.“) beharrte eine alte Landfrau aus Blankenhagen in den sechziger Jahren auf dem Recht des Hofes, über die Arbeitszeit der Heuerlingsfamilie auf dem Hof bestimmen zu können. Doch die Heuerlingsfamilie zog nach kurzer Zeit wieder aus. Auf einer Reihe von Höfen hier bei uns gab es allerdings auch gute nachbarschaftliche, beinahe freundschaftliche Beziehungen zwischen den Familien des Hofeigentümers und der Heuerlingsfamilie. Den Lebensunterhalt erwarb die Heuerlingsfamilie längst in der Industrie. Aber aus Gewohnheitsgründen oder weil es der Bauernfamilie nicht gut ging (Verluste von Familienmitgliedern, Kriegsverletzungen u.a.) arbeiteten Mitglieder der Heuerlingsfamilie freiwillig auf dem Hof mit. War das Familienoberhaupt der Heuerlingsfamilie Handwerker, arbeitete er in seinem erlernten Beruf auf dem Hof, z.B. als Maler, Tischler oder Maurer. Das ersparte dem Hof den teuren Einkauf dieser Handwerkerleistungen durch ein Unternehmen.

In der nächsten Ausgabe werden wir über die Lebens- und Arbeitsverhältnisse der Heuerlingsfamilien berichten.

[1] https://heuerleute.jimdo.com (Die Quelle ist nicht genauer hinterlegt)

[2] s. Helmut Lensing / Bernd Robben Betrachtungen zum Heuerlingswesen in Nordwestdeutschland. ISBN 978-3-9817166-7-2, Verlag der Studiengesellschaft für Emsländische Regionalgeschichte, Haselünne, 2. Auflage 2015

[3] das Anerbenrecht sah vor, dass die Höfe nicht geteilt wurden, sondern als Ganzes entweder dem ältesten (Münsterland)oder dem jüngsten Sohn (Süd-östlich Osnabrück, also auch hier bei uns) vererbt wurden.