Das Hollandgehen – “eine sociale Frage”(Dr. Meurer 1871)

Dr. H. Meurer:

Erstes Kapitel: Arbeiterwanderung. – Das Hollandsgehen. – Eine sociale Frage     

 

Beim Beginne des Frühlings, etwa im Anfange des Aprilmonats jedes Jahres nimmt man an den Bahnhöfen der hannoverschen Westbahn im Osnabrückischen regelmäßig Scharen von Männern wahr, ihrem Äußeren nach dem Stande der Arbeiter angehörig, mit Spaten oder Sense bewaffnet, einen schwer gefüllten Sack auf dem Rücken tragend. Beim Abgange der Züge sieht man sie dem Bahnhofe zueilen, um nach verschiedenen Richtungen davon getragen zu werden.

Woher kommen diese Leute? Wohin ziehen sie? Was wollen sie? Warum verlassen Arbeiter zu einer Zeit, wo die Arbeit auf dem Felde eben wieder beginnt, ihre Heimat und ziehen in die Fremde fort?

Indem wir die Beantwortung dieser sicher wohl begründeten Fragen versuchen, werden wir einen Blick werfen in die misslichen Verhältnisse unseres sehr ehrenwerten Arbeiterstandes vom Lande, und Kenntnis erhalten von einer wichtigen sozialen Frage in unserer Gegend, deren richtige und vollkommene Lösung die allgemeine Aufmerksamkeit und Mitwirkung in Anspruch nehmen sollte. Die Lage unsrer Heuerleute ist eine eben so traurige und unhaltbare, wie ihre Verbesserung schwierig und notwendig.

Die Arbeiter, welche wir hier in die Ferne forteilen sehen, bezeichnet man allgemein als „Hollandsgänger“, weil Holland früher das gemeinschaftliche Ziel aller war. Sie kommen jetzt vorwiegend aus dem nördlichen Teile des Fürstentums Osnabrück, und zwar aus den Ämtern Vörden, Bersenbrück und Quakenbrück, Fürstenau und Freren, dann aus der Niedergrafschaft Lingen und der Grafschaft Bentheim, sowie endlich aus den Grafschaften Diepholz und Hoya.

Das Ziel ihrer Wanderung ist teilweise Holland, dann Mecklenburg, Holstein und Schleswig und noch weiter nach Norden, dann nach Osten Ost- und Westpreußen, sogar Polen und darüber hinaus.

Die meisten dieser Reisenden verdingen sich hier als Arbeiter um Tagelohn. Ihre Arbeiten sind verschiedener Art, vorwiegend aber werden sie gebraucht als Mäher in den Wiesen und auf den Feldern, oder als Torfbereiter in den ausgedehnten Mooren; in Holstein und Dänemark arbeiten sie auch in den Ziegeleien. Die genannten Länder gehören dem nordwestdeutschen Tieflande an und bestehen größtenteils aus Moor-, Sumpf- und Marschboden. Niedrig, teilweise sogar unter der Wasserhöhe des Meeres gelegen, sind sie sehr feucht, sumpfig und wasserreich. Holland unter anderem, das erste und bedeutendste Feld der Tätigkeit unserer Arbeit suchenden Landsleute, führt eben von seiner niedrigen Lage seinen eigentlichen und richtigen Namen, die Niederlande. Hier ist es, wenn irgendwo, sichtbar, wie die Natur des Bodens auf die Beschäftigung, die Lebensweise, selbst auf den Charakter und das Wesen seiner Bewohner den größten Einfluss ausübt. Zum guten Teil ist es Polderland, welches durch Fleiß, die Einsicht und die Ausdauer seiner Bewohner dem Meere förmlich abgerungen und in einen fruchtbaren Garten umgewandelt, von vielen Flüssen, Kanälen und Abzugsgräben durchschnitten ist. Feste Deiche schützen das Land gegen das Überfluten des Meeres. Unabsehbare Wiesen und Weideflächen dehnen sich da vor unsern Blicken aus, manche Kornarten gedeihen hier vortrefflich, unendliche Moore schließen in dem nützlichen Torf einen großen Reichtum in sich.

Arbeiterwanderungen sind eine Erscheinung, welche in verschiedenen Teilen Europas vorkommt. Seit Jahrhunderten schon wandern Savoyarden nach Paris, um daselbst Dienste zu nehmen, Arbeiter aus Südfrankreich ziehen alljährlich zur Zeit der Ernte nach Spanien, kräftige Alpensöhne und Bewohner des Apennins in die zum Teile sehr ungesunden Ebenen des Po und Arno und die armen Karpathen-Bewohner in die fruchtbare Donauebene hinab, um für guten Lohn bei der Ernte zu helfen, Irländer wandern nach Schottland und England, Gallegos, die Bewohner der spanischen Provinz Gallicien, suchen Arbeit in den Niederungen des Minho und Duero und von Schweizern ist es bekannt, dass sie zahlreich [1]) in der Fremde leben, um irgend ein lohnendes Geschäft zu treiben und mit dem Erlös in die heimatlichen Berge zurückzukehren. Der unglückliche Ire dagegen zieht nach Nordamerika und – kehrt selten wieder, es sei denn, um die zurückgebliebenen Angehörigen auch herüber zu holen, weil der politische Druck und seiner Unterdrücker Härte eine Verbesserung seiner Lage im Vaterlande kaum erwarten lässt.

Auch in Deutschland trifft man diese Erscheinung unter wechselnden Formen in verschiedenen Ländern. Aus der Rhöngegend zieht alljährlich zur Zeit der Ernte eine große Zahl Arbeiter in die Wetterau und an den Rhein, um Arbeit und Verdienst zu suchen; aus Tirol, namentlich unter anderem aus dem Flecken Imst, ziehen die Männer alljährlich aus, um als Maurer, Steinmetzen und Holzarbeiter in der Fremde das benötigte bare Geld zu verdienen, aus dem rheinischen Berglande kommen Maurer, Aus Thüringen Köhler und Waldarbeiter, aus Lippe-Detmold Ziegelbrenner, vom armen Eichsfelde Feld- und Fabrikarbeiter für das westlicher gelegene Bergische, auch für das Magdeburgische und das Braunschweigische.

Den genannten Wanderungen nun reiht sich die unter dem Namen „Hollandsgehen“ bekannte, oben besprochene Arbeiterwanderung aus dem nördlichen Westfalen und den nördlich und östlich angrenzenden Ländern an, und übertrifft die meisten derselben an Ausdehnung und Bedeutung.

Das Hollandsgehen ist schon alt. Im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts spricht schon Möser davon als von einer alten, im Fürstentume Osnabrück sehr verbreiteten Sitte, und im Codex Constitutionum Osnabrugensium, einer Sammlung älterer Osnabrückischer Verordnungen, finden sich zwei Verordnungen des Fürstbischofs Karl vom 15. Juni und 18. November 1701, welche auf das Hollandsgehen Bezug haben. Offenbar ist dasselbe durch das Bedürfnis, die Arbeitskraft zu vermehren, veranlasst worden. Die Natur des Bodens in den Niederlanden, die von denselben bedingte Ackerwirtschaft und Viehzucht, die Gemüse-, Obst- und Blumenkultur, die seit Jahrhunderten in Blüte stehende Handelstätigkeit, wichtiger Schiffbau, ausgedehnte Seefahrt, eine nicht unbedeutende Fabrik- und Gewerbetätigkeit und weit ausgebreitete Seefischerei, das Alles erforderte mehr Arbeitskräfte, als das Land, obwohl sehr bevölkert, aufzubringen vermochte. Es war daher die fremde Hilfe, welche in den benachbarten Ländern zwischen Ems und Weser gefunden wurde, sehr willkommen. So kamen Arbeiter namentlich aus der Grafschaft Bentheim, der Niedergrafschaft Lingen, dem westlichen und nördlichen Teile des alten Hochstifts Münster, dem Fürstentume Osnabrück, dann auch aus dem Oldenburgischen, Mindenschen, Lippeschen, zuletzt auch aus den westfälischen Kreisen Herford, Wiedenbrück und Paderborn, und alle fanden sie in den Niederlanden Arbeit und reichlichen Lohn.

Ein Teil der Hollandsgänger trieb einen einträglichen Hausierhandel mit dem so genannten Wolllaken, mit Leinen und anderen Manufakturen, andere arbeiteten als Maurer, Tischler, Zimmerleute, Leimkocher, Gärtner etc., der größte Teil aber war mit Mähen und mit Baggern in den großen Torfmooren, auch mit Deicharbeiten, Grabenauswerfen und dergleichen beschäftigt. Ein guter Arbeiter konnte bei sparsamer Lebensweise in einer Arbeitszeit von sechs Wochen 30 bis 40, in einer Arbeitszeit von einem Vierteljahre 80 bis 100 Gulden freies Geld erübrigen und in die Heimat mitbringen.

Indessen haben sich im Laufe der Zeit die Verhältnisse durchaus anders gestaltet. Schon vom Anfange dieses Jahrhunderts an hat die Arbeiterwanderung nach Holland aus verschiedenen Gründen sehr abgenommen, dagegen hat dieselbe teilweise andere Ziele gewonnen, indem Scharen von Arbeitern unter andern, wie oben bereits erwähnt, nach Mecklenburg, Holstein, Dänemark, nach Ost- und Westpreußen und weiter ziehen, um sich den hohen Lohn, welcher dort gezahlt wird, zu verdienen. In einigen Gegenden hat auch die Arbeiterwanderung so ziemlich ganz aufgehört, namentlich im Herzogtume Arenberg-Meppen, im größten Teile der südlichen Hälfte des Fürstentums Osnabrück, in Preußisch-Westfalen; in anderen, als den Grafschaften Bentheim und Lingen, Hoya und Diepholz, hat sie sich gegen früher bedeutend vermindert.

Aus dem Amte Bersenbrück mit nicht völlig 18.000 Seelen zählte man im Jahre 1864 = 884, 1867 = 1.099, 1868 = 909 Männer, welche zur Arbeit in die Fremde auszogen, eine verhältnismäßig große Zahl lieferten auch die osnabrückischen Ämter Fürstenau und Vörden. Die Arbeiter aus diesen Ämtern, wie auch den Ämtern Bersenbrück und Freren nahmen ihren Zug vorwiegend nach Dänemark, Holstein, Mecklenburg und Ostpreußen, die aus den Grafschaften Bentheim und Lingen werden dagegen durch die Nachbarschaft fortwährend noch nach Holland gezogen. Aus dem Amte Freren allein betrug 1866 die Zahle der eigentlichen Hollandsgänger 1500 Seelen. Während zur Zeit der größten Blüte jährlich gegen 25.000 Arbeiter allein über die Brücke bei Lingen zogen, rechnet man noch jetzt deren Zahl aus dem Osnabrückischen allein auf mindestens 3.500 Mann.

Dieses Verhältnis ist eher in Zu-, als in der Abnahme begriffen, da mit dem Bedürfnis nach Arbeitern der Lohn immerfort steigt und es gewiss ist, dass unter andern die östlichen Provinzen Preußens den geübten und fleißigen westfälischen Arbeitern noch auf viele Jahre ein gewinnreiches Feld der Tätigkeit sichern. Die ungeheueren Torfmoore unter andern, welche sich in den Niederungen der Netze und Warthe ausdehnen, können ohne fremde Hilfe von ihren Eigentümern nicht richtig ausgebeutet werden. Allein beim Dorfe Linum im nördlichen Brandenburg geht die Summe der alljährlich bereiteten Torfziegel über 20 Millionen hinaus. Wie viele Arbeitskräfte sind allein hier nötig! Und da ist diese Arbeit noch auf eine lange Reihe von Jahren gesichert.

Das also sind die Tatsachen, wie sie vorliegen, und da drängen sich jedem Denkenden ganz natürlich die Fragen auf: Was ist der Grund dieser Erscheinung? Was treibt alle diese Leute zu dieser Wanderung? Was veranlasst sie, den heimatlichen Herd, Frau und Kinder zu verlassen, um Wochen, vielleicht Monate lang in der Fremde dem Fremden zu dienen, für Fremde die schwersten und gefährlichen Arbeiten zu verrichten?

Der allen Arbeiterwanderungen gemeinschaftliche Zweck ist der, den zur Sicherung der Existenz notwendigen Erwerb, welchen die Heimat nicht bietet, in der Fremde zu finden. Wie den Gallego, Savoyarden, den Alpenbewohnern und Iren, so drängt auch unsere Landsleute die Notwendigkeit, den gewöhnlichen kärglichen Erwerb durch einen ihren Bedürfnissen entsprechenden Nebenverdienst zu erhöhen, zu ihrer Wanderung. Durch die besonderen Verhältnisse, worin sie leben, auf einen Nebenerwerb angewiesen, welcher ihnen unter den bestehenden Verhältnissen in der Heimat gar nicht oder doch nicht so gut geboten wird, suchen und finden sie denselben in der Fremde.

Je größer die Nachfrage nach guten Arbeitern, desto größer auch der Lohn; derselbe ist selbstredend nach der Art der Beschäftigung und nach den Leistungen verschieden. Der reine Verdienst eine tüchtigen Torfarbeiters beträgt noch jetzt in Holland bei einer Arbeitszeit von 11 – 12 Wochen, das ist etwa von Mitte April bis Ende Juni, nach Abzug aller Unkosten für Essen, Schlafstätte und Reise [2]), 40 bis 80 Gulden [3]). In den übrigen Ländern übernimmt in der Regel ein mit den Arbeiten und den Verhältnissen genügend bekannter Arbeiter eine bestimmte Arbeit für eine festgelegte Summe; ihm bleibt es dann überlassen, sich die zu deren Ausführung nötigen Mitarbeiter zu dingen [4]). Je günstiger die Bedingungen, desto größer der Vorteil zunächst des Unternehmers, welcher unter besonders günstigen Umständen wohl 300 bis 400 Taler freies Geld gewinnen soll, dann auch seiner Gehilfen, von welchen wohl 60, 80, 100, ja 120 bis 150 Taler in einer Arbeitszeit von drei Monaten erübrigt worden sind.

Das ist allerdings viel bares Geld, aber ob ein genügender Ersatz gegenüber der Leistung, welche dafür gefordert wird, und den mancherlei Gefahren und nachteiligen Wirkungen des Hollandsgehens werden wir nun die häusliche Lage und die Lebensverhältnisse der Hollandsgänger näher zu erforschen haben, um gewiss davon zu werden, dass es wirklich die Notwendigkeit ist, welche sie drängt, draußen in der Fremde einen besonderen Erwerb zu suchen.

 

 

[1] Man berechnet die Zahl der in der Fremde lebenden Schweizer auf beiläufig 55 – 66.000 Seelen, und zwar an 20.000 in Amerika, 16.000 in Frankreich, mehr als 10.000 in Italien, bis 15.000 in Deutschland und Österreich. Schweizer bildeten an den Höfen von Frankreich, Neapel, Rom etc. früher häufiger, als jetzt, eine beliebte Garde.

[2] Die meisten Arbeiter nehmen Nahrungsmittel von zu Hause mit, so dass in der Fremde nur das Notwendigste gekauft wird. An einzelnen Arbeitsstellen wird auch wohl die Kost verabreicht. – Als Schlafstätten dienen häufig Scheunen oder auf dem Moore aufgeschlagene Hütten, ein wenig Heu vertritt die Stelle des Bettes. Die vormaligen anstrengenden und verderblichen Reisen zu Fuß, werden jetzt meistens auf der Eisenbahn gemacht. Verschiedene Bahnen befördern die Arbeiter unter gewissen Umständen um einen billigeren Preis, als den gewöhnlichen.

[3] Früher war der Verdienst 10 – 20 Gulden höher.

[4] Herr Pastor Behnes zu Messingen teilt mir folgendes spezielle Beispiel mit: Zwei Arbeiter aus dem Bersenbrück`schen verdienten in Mecklenburg während drei Monaten des Sommers 1868 zusammen 207 Taler. Nachdem für Beköstigung etc. jeder etwa 35 Taler, an Reisekosten 14 Taler verausgabt hatte, brachte der Jüngere etwa 49 Taler, der Ältere 60 Taler heim. – Sie hatten 618 ( ) Ruthen Torf, 7 Zoll dick, angefertigt, also für die Ruthe 10 gr. und täglich etwa 2 ½ Taler verdient.

Meurer, Heinrich: Das Hollandsgehen in besonderer Rücksicht auf die Lage der Heuerleute im Osnabrückischen. Osnabrück 1871, Seite 1- 8