Vom Heuerling zum Neubauern (Brockmann/Schröder)

von Walter Brockmann und Karl-Heinz Schröder

 

In unserer Gegend (Grönegau, heute Stadt Melle) waren die Worte „Heuerhaus“ und „Heuerling“ zwar nicht unbekannt, wurden aber von der Bevölkerung kaum benutzt. Man sagte Kotten, oder, da ja früher fast nur Platt gesprochen wurde, Kourten und zu denen, die darin wohnten, Koürter oder dee Kourten Lühe.

Nachdem der 1822 in Sehlingdorf geborene Johann Heinrich Brockmann die 1819 in Oberholsten geborene Elisabeth Margarete Dickbreder am 30. Juli 1846 in Oldendorf gehei- ratet hatte, zog das junge Paar in das Hofgebäude Nr. 4a des aufgelösten Halberbe Wienker in Niederholsten. Das Hofgebäude hatte der Colon Niewöhner in Niederholsten erworben und diente als Heuerstätte.

Als das Halberbe Wienker, Niederholsten Nr. 4, aufgehoben wurde, weil der Besitzer nach Amerika auswanderte, kaufte Heinrich Brockmann mehrere Grundstücke von diesem Halberbe. Als Erstes erwarb er 1850 ein Waldgrundstück „Auf der Wagenhorst“ in Oberholsten. Ein Waldstück war damals unentbehrlich für die Landwirtschaft, denn man benötigte nicht nur Holz zum Heizen, sondern auch Einstreu für die Viehställe.

Im Viehschatzregister von 1864 steht Johann Heinrich Brockmann unter Hausnummer 4a noch als Heuerling mit drei Kühen und einem Mastschwein verzeichnet. Da er kein Pferd besaß, musste er mit seinen Kühen den Acker bearbeiten, die dadurch nicht mehr viel Milch geben konnten. Um etwas dazu zu verdienen, arbeiteten die Männer der „Kleinen Leute“ im Winter als Hausschlachter, Holzfäller oder im Steinbruch. Die Schinken des für den Eigenbedarf geschlachteten Schweins wurden verkauft, obwohl man die sicher gerne selbst gegessen hätte, aber wie sollte man sonst an Geld kommen? Von dem was von den Feldern geerntet wurde, konnte auch nicht viel verkauft werden, denn das wurde für den Eigenbedarf benötigt. Der Ertrag war früher bedeutend geringer als heute, denn es gab noch keinen Kunstdünger. Auch wurde zu der Zeit von den Frauen noch Flachs gesponnen und Leinen gewebt, welches dann verkauft wurde.

Von dem Erlös und aufgrund sparsamer Haushaltsführung kaufte Heinrich Brockmann weitere Ländereien hinzu, unter anderem vom ehemaligen Gut Feldmühle in Grambergen und dem aufgehobenen Viertelerbe Melcher in Niederholsten. Unklar ist, wie die Familie das nötige Geld erwirtschaften konnte. Denn Heuerleute, oder wie man hier sagte Kottenleute, gehörten zu den Armen, weil sie von ihrem Erwirtschafteten kaum leben konnten.

Von den sechs Jungen der Familie verstarb einer bereits im Kindesalter. Da in dieser Zeit für junge Männer kaum Aussicht bestand eine Arbeit zu bekommen oder auf einen Bauernhof einheiraten zu können, sind zwischen 1866 und 1881 vier Söhne der Familie nach Amerika ausgewandert und in Cincinnati sesshaft geworden. Ein weiterer Grund für die große Auswanderungswelle in diesen Jahren war die Annektierung des Königreichs Hannover durch Preußen im Jahre 1866. In Preußen herrschte die allgemeine Wehrpflicht, die es im Königreich Hannover nicht gegeben hatte, und der wollte man sich möglichst entziehen. Die beiden Mädchen heirateten und blieben im Kirchspiel Oldendorf.

Im Jahre 1870 erwarb Heinrich Brockmann von der Gemeinde Niederholsten eine auf einer Anhöhe gelegene Restfläche der Mark „Im Westerhauser Heg“, die früher als Versammlungs- und Veranstaltungsplatz gedient hatte. Hier errichtete er ein vom Colon Meyer zu Westerhausen erworbenes Fachwerkhaus, welches aus dem aufgelösten Vollerbe Kienker zu Westerhausen stammte. Was man mit einem aus Steinen gebauten Haus nicht machen kann, das geht mit einem Fachwerkhaus. Es wurde in Westerhausen abgebaut und in Nie- derholsten wieder aufgebaut, und bekam als Neubauerei die Hausnummer 13.

Gemeinsam mit seiner Frau Margarete setzte Johann Heinrich Brockmann alles da- ran, die neue Hofstelle so, wie im Grönegau üblich und den benachbarten Hofstellen vergleichbar, zu gestalten. Wegen der Hanglage auf einer Anhöhe gab es wenig Mutter- boden, aber viele Steine. Um einen Hausgarten anzulegen, trug Heinrich Brockmann den steinigen Boden etwa einen halben Meter tief ab. Nun wurde bei den Säuberungen im Herbst der Aushub aus den Gräben der Umgebung und der Schlamm aus dem Mühlenteich mit Pferd und Wagen auf die ausgehobene Fläche gebracht. So entstand nach sehr viel Mühe und Arbeit, da die Erde mit der Schaufel bewegt werden musste, weil es da- für noch keine Maschinen gab, ein fruchtbarer Garten. Mit den im Aushub gefundenen größeren Steinen errichtete er eine Feldsteinmauer. Zur weiteren Einfriedung pflanzte er Dornenhecken. Für deren Bewässerung musste seine Frau Margarete das Wasser aus einem etwa 200 Meter entfernten Tümpel holen, da der Brunnen hierfür nicht genügend Wasser hergab. Auf Fragen nach dem Zweck seiner Arbeiten antwortete er: „Dat sall een Paradies wäden“.

Man hatte als Neubauer zwar nicht weniger Arbeit, aber man arbeitete jetzt für sich selbst und nicht mehr überwiegend für den Verpächter, denn für die Pacht musste beim Bauern gearbeitet werden. Eine Frau, die im Bauernkotten groß geworden war und 1923 heiratete, hat uns folgendes erzählt: „Ich hatte einen jungen Mann kennengelernt,   des- sen Eltern ein kleines landwirtschaftliches Anwesen besaßen, welches er erben sollte. Es war jedoch so klein, dass eine Familie davon kaum leben konnte. Sie   besaßen nur drei Kühe und kein Pferd, mussten also mit den Kühen ackern. Das Anwesen hatte etwa die Größe einer Heuerstelle. Darum hatte sein Vater Schneider gelernt und sorgte somit für ein zweites Standbein. Kurz vor unserer Hochzeit hat meine Mutter, die nur Platt sprach, Folgendes zu mir gesagt: ‚Du wess et doa nicht lichte häbben, oaber wenn et di auk man- gens schwoor fällt, lött et vorüöber tehn. Et is eegen Kraum un du arbeetes foor ju süm- mes un nich mee foor annere Lühe.‘“

Im Meller Kreisblatt konnte man am 26. Mai 1885 folgende Nachricht lesen:

„Der Neubauer Heinrich Brockmann aus Niederholsten ging am Nachmittag des 24. Mai, dem 1. Pfingsttag, mit seiner Frau zu Fuß zum Gottesdienst nach Oldendorf. Unterwegs wurden sie von einem schweren Gewitter überrascht. Ein Blitzstrahl traf den geachteten und beliebten Neubauer und tötete ihn auf der Stelle. Seine fünf Schritte vor   ihm gehende Frau wurde niedergeworfen und schwer verletzt.“

Jetzt musste der Sohn Hermann, der bereits 1882 Elise Caroline Christoffer aus Hal- tern bei Belm geheiratet hatte, als Nachfolger seines Vaters die Neubauerei übernehmen. Um mehr Vieh unterbringen zu können, wurde das Fachwerkhaus um einen massiven Anbau erweitert. Inzwischen war die Familie auch um zwei Töchter und vier Söhne angewachsen. Dank der frühen Landkäufe des Vaters war die Familie „aus dem Gröbsten heraus“, wie man auf dem Lande zu sagen pflegte.

Dann gab es jedoch einen herben Rückschlag. Am 6. September 1907 brannte das Fachwerkhaus mitsamt dem Anbau vollständig nieder. Die auf dem Bild am rechten Bildrand zu sehende Scheune, in der sich auch der Schweinestall befand, ist bei dem Brand erhalten geblieben. Alles, was sie nicht selbst unterbringen konnten, wurde in der Nach- barschaft untergebracht. Sich in Notfällen gegenseitig zu helfen und zu unterstützen, das war früher in der Nachbarschaft selbstverständlich, denn in diese Lage konnte jeder mal geraten. Eine große Hilfe waren auch die bäuerlichen Verwandten von Frau Elise, denn sie spendeten Inventar und Futtermittel für das Vieh. Die inzwischen 88-jährige Oma Margarete kam zu ihrer Tochter Katharina in Dierkers Kotten in Niederholsten. Sie starb bereits drei Monate später am 8. Dezember 1907. Es wurde sofort mit dem Bau eines neuen Hauses begonnen, denn ohne Haus und Vieh ist keine Landwirtschaft zu betreiben. Der Neubau wurde jetzt aber als Massivhaus aus Backsteinen errichtet und es konnte noch im selben Jahr Richtfest gefeiert werden.

Jede Möglichkeit um zusätzliches Geld zu verdienen nahm Hermann Brockmann wahr, denn die noch vorhandenen Schulden mussten ja irgendwie getilgt werden. Als in der Gemeinde Buer Arbeiter für Erdarbeiten benötigt wurden, ging er über einen länge- ren Zeitraum jeden Tag zu Fuß von Niederholsten nach Buer. Jeder musste damals sein eigenes Handwerkzeug zur Arbeit mitbringen. An Hermanns Schaufel, die auf seiner Schulter lag, hingen der Henkelmann und die in einem roten Halstuch   eingewickelten Brote. Ein weiterer Nebenerwerb für Hermann war Kühe treiben. Für einen Viehhänd- ler trieb er die Kühe zu den Märkten oder Käufern. Damit die Kühe zusammenblieben, wurden sie mit Ketten aneinander gebunden. An Kuhketten herrschte dadurch auf dem Hof auch später kein Mangel. Die älteste Tochter heiratete den Bäckermeister Lübker und wohnte in Osnabrück an der Langen Straße. Ein Sohn und die zweite Tochter waren inzwischen auch verheiratet und wohnten in Barkhausen/Porta. Als Elise ihre beiden Kinder in Barkhausen besuchte, wurde sie dort am 13. Dezember 1925 von einem Auto tödlich überfahren. Der Sohn August hatte Tischler gelernt und wohnte in Melle. Da der als Hoferbe vorgesehene Sohn im Ersten Weltkrieg im Alter von 21 Jahren gefallen war, musste Wilhelm, der Jüngste, später den Hof übernehmen.

Weil Herman immer darauf geachtet hatte, dass der Arbeitgeber bei seinen Beschäftigungen auch Marken für seine Invalidenkarte kaufte, war er einer der Ersten in der Bauerschaft, die später eine Rente bekamen. Der Arbeitgeber bekam für den abgeführten Rentenbeitrag eine Wertmarke, die in die Invalidenkarte des Arbeitnehmers geklebt wur- de. Die Rente musste früher am Ersten des Monats bei der Post abgeholt werden. Wenn Hermann seine Rente von der Post in Oldendorf abgeholt hatte und ihm auf dem Rück- weg jemand aus der Bauerschaft begegnete, dann hielt er ein Geldstück hoch und sagte:

„Ik häwwe Vandage oll mien Geld vodeent.“

Trotz der vielen und schweren körperlichen Arbeit ist Hermann 83 Jahre alt geworden. Er starb am zweiten Weihnachtstag 1934. Der Sohn Wilhelm, der bereits 1923 Frieda Wellenkötter aus Grambergen geheiratet hatte, bewirtschaftete den Hof über die schweren Kriegs- und Nachkriegsjahre des Zweiten Weltkrieges hinaus, bis der jüngste Sohn Günter das Anwesen übernahm. Inzwischen leben schon die nächsten beiden Generati- onen auf dem Anwesen. Infolge der allgemeinen Entwicklung wird jedoch auf diesem, wie auf vielen anderen Bauernhöfen, keine Landwirtschaft mehr betrieben. Als Johann Heinrich Brockmann den Grundstein für seine Neubauerei legte, da hat er bestimmt nicht damit gerechnet, dass 130 Jahre später auf seinem Anwesen keine Landwirtschaft mehr betrieben wird.

Anmerkung:

Der vom Blitz erschlagene Johann Heinrich Brockmann war der Urgroßvater der beiden Autoren Walter  Brockmann und Karl-Heinz Schröder.

Brockmann, Walter/Schröder, Karl-Heinz:Vom Heuerling zum Neubauern in: Jahrbuch Osnabrücker Land 2015, Seite 47-51