Besteht zwischen dem Niedergang des Heuerlingswesen und der Zunahme des Schwundes der plattdeutschen Sprache ab den 60er Jahren ein Kausalzusammenhang?
Ohne Frage war Platt die Sprache der Heuerleute. Darüber ist hier auch schon berichtet worden. Nun soll die Betrachtungsweise darüber hinausgehen.
Während Kinder von Landwirten auch die weiterführenden Schulen besuchen konnten, war dieser Bildungsweg den Nachkommen der Heuerlinge fast durchweg verschlossen. Diese traten nach dem Ende der Volksschule mit 14 Jahren in aller Regel eine Tätigkeit als Knecht oder Magd auf den Bauernhöfen an, um dann nach der Verheiratung ebenfalls wieder – wie ihre Eltern schon – eine Heuerstelle zu übernehmen. Nach dem 1. Weltkrieg wurde es vereinzelt möglich, dass sie auch ein reguläres Handwerk mit begleitendem Berufsschulunterricht lernten.
In den Jahrzehnten zuvor betätigten Heuerleute sich ungelernt im Nebenerwerb als Schlachter, Holzschuhmacher oder Zimmerer. In all diesen Lebensbereichen wurde ausschließlich Plattdeutsch gesprochen.
Die Ablösung vom Bauern nach dem 2. Weltkrieg wurde erst möglich, wenn ein eigenständiger Arbeitsplatz mit einem entsprechend höheren Einkommen gefunden war. Das ging zumeist einher mit dem Bau eines Eigenheims, welcher ermöglicht wurde durch die erweiterten zinsgünstigen Finanzierungsmöglichkeiten am Geldmarkt durch den anhaltenden Wirtschaftsaufschwung, der unter dem Namen das deutsche Wirtschaftswunder in die Geschichtsbücher einging.
Während insbesondere in den Bauberufen die plattdeutsche Sprache weiterhin Standard war, wurde die hochdeutsche Sprache für etliche ehemalige Heuerleute etwa in den kaufmännischen Tätigkeiten zur Selbstverständlichkeit.
Die ländliche Struktur Nordwestdeutschlands veränderte sich nun grundlegend. Insbesondere die mittelständische Landmaschinenindustrie hatte einen enormen Bedarf an Arbeitskräften, weil die Bauern durchweg die nun fehlende Arbeitskraft der Heuerleute durch Maschinen ersetzen mussten, wurden Miststreuer, Bindemäher, Schlepper und Pflüge gebaut. Und gerade hier fanden die ehemaligen Heuerleute ihre neuen Arbeitsplätze. Das war eine win-win-Situation für alle Beteiligten. Die Bauindustrie wurde dadurch ebenfalls angekurbelt und in etlichen Kirchdörfern siedelte man die Bauernhöfe aus, damit man passendes Bauland für die neu entstehenden Siedlungen in Dorfnähe anbieten konnte. Die Karte von Spelle im südlichen Emsland zeigt diese Entwicklung deutlich.
Neben den wirtschaftlichen Veränderungen wurden sowohl vom Staat als auch von den Kirchen Kampagnen und Neuerungen gestartet, die man unter dem Begriff Volkshochschule (u. a. Katholische Erwachsenenbildung) und Schulreformen zusammenfassen kann. So wurde das 9. Schuljahr eingeführt. Es wurde eine Durchlässigkeit durch die einzelnen Schultypen eingerichtet, die Aufnahmeprüfungen an den weiterführenden Schulen abgeschafft. So stiegen die Schülerzahlen an den Gymnasien und Realschulen, so nannte man nun die ehemalige Mittelschule, stiegen enorm an. Insbesondere im Bereich der Erwachsenenbildung wurde nun der Verzicht auf die Weitergabe der plattdeutschen Sprache an die Kindergeneration postuliert mit der Erklärung, diese Sprache sei ein Bildungshemmer für die Heranwachsenden. Dieser Aufforderung kamen nahezu alle Eltern nach.
Damit war der plattdeutschen Sprache zum ersten Mal in ihrer Geschichte der Nachwuchs auf breiter Ebene abhanden gekommen.
Dass die hochdeutsche Sprachvermittlung von Eltern, die fast ausschließlich in der plattdeutschen Sprachewelt groß geworden waren, auch seltsame Blüten trieb, war wohl zu erwarten. Ein Beispiel mag das verdeutlichen: So gingen die Kinder nun im Bett anstatt ins Bett. Wenn man die Kinder darauf aufmerksam machte, dass man im Bett nicht gehen kann, dann zeigten sie Verständnis dafür. Aber nach einer halben Stunde war das vergessen und sie gingen wieder im Bett.
Der Geist des rasanten Wandels wurde nicht nur im kirchlichen Bereich auch beflügelt vom 2. Vatikanischen Konzil (1962 – 1965).
Die Zeit der Rückschau
Allerdings setzte auch zunehmend eine Rückbesinnung auf vergangene Zeiten ein. Zu schnell verlief nun der Wandel auch auf dem Lande. Selbst in den Dörfern setzten sich im Zentrum seelenlose Betonbauten durch, die den Zeitgeist widerspiegeln sollten.
In den Bauerschaften kam es vermehrt zu Flurbereinigungen, die ganze Landschaften ausräumten, um eine Maschinen gerechtere Landwirtschaft zu ermöglichen. Die Heuerhäuser wurden in der Mehrzahl aus verschiedenen Gründen abgerissen.
Auf den Bauernhöfen selbst wurde enorm angebaut, damit man durch die Aufstockung der Viehbestände weiterhin eine auskömmliche Landwirtschaft betreiben konnte.
Nun gründeten sich auch in den Dörfern vermehrt Heimatvereine, die sich zuvorderst der Dokumentation der angestammten Kulturgüter widmeten. So ist es kein Zufall, dass etliche Heimathäuser ehemalige Heuerhäuser sind. Auch die Pflege der plattdeutschen Sprache stand ganz vorne. Über eines wurde jedenfalls nicht gesprochen: über das vergangene Heuerlingswesen. Dieses Thema war nahezu überall tabu, man wollte die zwischenmenschlichen Unzulänglichkeiten der früheren Jahrzehnte und Jahrhunderte nicht mehr thematisieren, um einvernehmlich miteinander umzugehen.
Teile der Lehrerschaft erkannten ab Mitte der 80er Jahre im Unterrichtsalltag, dass Plattdeutsch bei den Kindern weder zu Hause noch untereinander vorkam. So ergriffen sie fast zeitgleich in allen Landkreisen Nordwestdeutschland die Initiative und es gründeten sich Arbeitskreise. Ausgerechnet die Lehrergeneration – Geburtsjahre 1945 bis 1955 – die mit ihren eigenen Kindern nur noch Hochdeutsch sprachen, trafen sich freiwillig in den Nachmittagen, um Lehrmaterial für ihren Plattdeutsch – Unterricht zu entwerfen. So kamen über diese Schiene plattdeutsche Lesebücher in die Schulen. Plattdeutsche Vorlesewettbewerbe, die von den Kreissparkassen regelmäßig veranstaltet wurden, erfreuten sich großer Beliebtheit.
Allerdings merkte man durchweg im Kreise der engagierten Pädagogen, dass die eingerichteten Arbeitsgemeinschaften es nicht leisten konnten, den Kindern Grundlagen für den Erwerb der plattdeutschen Sprache zu liefern. Und so schlief die Euphorie der Anfangsjahre langsam wieder ein. Mittlerweile wurden auch die ersten älteren Kollegen und Kolleginnen pensioniert. Die nachwachsende Lehrergeneration hatte nun in aller Regel selbst keine aktive Plattdeutsch – Kompetenz mehr. Wie soll man eine Sprache unterrichten, die man selbst nicht beherrscht.
Das ist die heutige Lagebeschreibung zu einer Sprache, die von allen Heuerleuten noch beherrscht und durchweg gesprochen wurde…
Fotos oben: Kreisbildstelle Lingen Fotos unten: Archiv Robben