Rezension Engelbert Beckermann Jahrbuch OM

Bernd Robben/Helmut Lensing: „Wenn der Bauer pfeift, dann müssen die Heuerleute kommen!“ Betrachtungen und Forschungen zum Heuerlingswesen in Nordwestdeutschland. Verlag der Studiengesellschaft für Emsländische Regionalgeschichte, Haselünne, 2. Auflage 2015. – Geb., 288 S.,  24,80 €,   ISBN 978-3-9817166-0-3

 

Ralf Weber: Das Heuerlingswesen im Oldenburger Münsterland im 19. Jahrhundert. Veröffentlichungen des Museums im Zeughaus, Stadt Vechta, Band 7. Schröderscher Buchverlag Diepholz 2014. – Geb., 178 S., 15,00 €,  ISBN 978-3-89728- 080-9

 

300 Jahre lang, vom Dreißigjährigen Krieg bis in die 50er Jahre des 20. Jahrhunderts, bildeten die Heuerleute ein wichtiges Element der Agrargesellschaft in den Geestdörfern Nordwestdeutschlands. Zur Blütezeit des Heuerlingswesens um 1800 stellten sie in vielen Kirchspielen der Ämter Cloppenburg und Vechta mehr als die Hälfte, zeitweilig sogar fast zwei Drittel der Bevölkerung. Nach dem Zweiten Weltkrieg verschwanden nach und nach die Heuerhäuser aus unserer Kulturlandschaft: Sie wurden verkauft, umgebaut, verlassen, abgerissen – einige wenige finden sich noch heute als hübsch renovierte Schmuckstücke an den Rändern unserer Dörfer.

Da es seit nunmehr fünfzig Jahren praktisch keine Heuerleute mehr gibt, sei kurz erläutert, worum es geht: Ein Heuermann bewirtschaftete als Pächter selbständig eine kleine Landstelle mit einem Heuerhaus und selten mehr als 2 – 4 Hektar Land, musste aber die Miete und die Pacht – das unterschied ihn von einem Pächter – überwiegend in Form von körperlicher Arbeit auf dem Hof des Bauern entrichten. Daraus ergab sich eine starke Abhängigkeit vom Bauern, zumal es keine soziale Absicherung z. B. gegen eine Kündigung gab. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts konnte die Übernahme einer solchen Heuerstelle für ledige Mägde und Knechte, aber auch für abgehende Bauernkinder eine willkommene Gelegenheit sein, durch die Kombination von Erträgen aus der Landwirtschaft, aus Saisonarbeit („Hollandgänger“) und häuslichem Nebengewerbe (Leinenproduktion, Verarbeitung von Schafwolle, ländliches Handwerk) eine eigene Existenz aufzubauen und so in dieser Nische der Feudalgesellschaft eine Familie zu gründen.

Als jedoch in den 30er Jahren durch den steigenden Bevölkerungsdruck die verfügbare landwirtschaftliche Fläche nicht mehr ausreichte, der Hollandgang kaum noch lohnte und das häusliche Nebengewerbe der Konkurrenz der industriellen Textilproduktion immer mehr weichen musste,  kam es zu einer Massenarmut unter den Heuerleuten, die dem Pauperismus in anderen Teilen Deutschlands (vgl. Hauptmanns „Die Weber“ in Schlesien) vergleichbar war. Unter dem wirtschaftlichen Druck verschärfte sich die  bis dahin oft noch durch patriarchalische oder sogar verwandtschaftliche Beziehungen gemilderte Abhängigkeit der Heuerleute von den  Bauern, und Tausende verließen angesichts der  miserablen Lebensumstände ihre angestammte Heimat und wanderten aus in die Vereinigten Staaten.

Für die verbleibenden und nachkommenden Heuerleute brachte diese Auswanderung eine gewisse Entlastung; dennoch reduzierte sich in der Folgezeit die Zahl der Heuerstellen, und als sich nach dem Zweiten Weltkrieg andere Ausbildungs- und Erwerbsmöglichkeiten boten, ergriffen fast alle Heuerleute diese Chance, einem Arbeitsverhältnis zu entkommen, das zunehmend als drückend und unzeitgemäß empfunden wurde. So hatte sich am Ende der 60er Jahre eine Bevölkerungsschicht, die hundert Jahre zuvor in den Dörfern noch zahlenmäßig dominiert hatte, in kurzer Zeit völlig verflüchtigt, ohne dass dieser massive Strukturwandel nennenswerte Spannungen oder Eruptionen ausgelöst hätte!

Seit den ersten Beiträgen von Heinrich Nieberding in den „Oldenburgischen Blättern“ 1819/20 war das Heuerlingswesen immer wieder Gegenstand von publizistischen und regionalgeschichtlichen Untersuchungen. Umfassend hat sich zuletzt 1948 Hans-Jürgen  Seraphim und in seiner Nachfolge  für unsere Region noch 1958 Paul Brägelmann mit der Frage befasst, welche Perspektiven das Heuerlingswesen in der Agrarverfassung der jungen Bundesrepublik bieten könne. Mit dem endgültigen Verschwinden des Heuerlingswesens  geriet das Thema dann jedoch zusehends in Vergessenheit und wurde nur vereinzelt in sozial- und regionalgeschichtlichen Untersuchungen zur Auswanderung, zur Arbeitsmigration oder zur Bevölkerungsentwicklung aufgegriffen.

Nun liegen gleich zwei Monographien vor, die sich dem Thema auf ganz unterschiedliche Weise nähern. Die emsländischen Autoren Bernd Robben und Helmut Lensing nehmen das gesamte Verbreitungsgebiet der Heuerleute (Nordwestdeutschland ohne die Marschgebiete, wo es keine Heuerleute gab) in den Blick und richten einen besonderen Fokus auf das Emsland, das Münsterland, das Osnabrücker Nordland und das Oldenburger Münsterland. Zeitlich spannen sie einen Bogen von der Entstehung im 16. Jahrhundert bis heute. Ralf Weber konzentriert seine aus einer Magisterarbeit an der Universität Vechta erwachsene Untersuchung räumlich auf das Oldenburger Münsterland und zeitlich auf die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts. B. Robben und H. Lensing werten souverän und kenntnisreich die umfangreiche Sekundärliteratur und viele Quellen aus den verschiedenen Teilregionen aus, Ralf Weber erarbeitet seine Darstellung aus dem intensiven Studium der Archivalien, die das Oldenburger Staatsarchiv vor allem in den Berichten der südoldenburgischen Ämter aus den 40er Jahren aufbewahrt, und setzt sie in Beziehung zur einschlägigen Literatur.

Herausgekommen ist bei B. Robben und H. Lensing eine großformatige, abwechslungsreiche und hervorragend illustrierte Darstellung, die alle Aspekte des Heuerlingswesens – die historische Entwicklung, die wirtschaftliche Situation, die Lebensverhältnisse im Alltag, die Auswanderung – abdeckt. Das Buch fesselt durch eine schlüssige inhaltliche Strukturierung, durch eine klare Sprache und motivierende Kapitelüberschriften und durch eine  Vielfalt von aussagekräftigen Quellenauszügen, alten Fotos, informativen Aufstellungen und anschaulichen Zeitzeugenberichten. Interessierte Heimatforscher kommen ebenso zu ihrem Recht wie Leser, die nur punktuell Einblick nehmen wollen.

Eine richtige thematische Entscheidung der Autoren war es sicherlich auch, die latenten Gewaltstrukturen im Verhältnis der Bauern zu Ihren Heuerleuten und dem Gesinde nicht auszusparen. Einige Zwischenüberschriften („Heuerlingswaisen wurden versteigert“, S. 153; „Lieber ein Kind stirbt als eine Kuh“, S. 163) oder die Überlegungen zum „Schweigemilieu“ um das Thema „Die Bauern und ihre Mägde“ (S.170ff.) erscheinen dem Rezensenten allerdings zu reißerisch aufgemacht, bei aller Relativierung, die die Autoren selbst vornehmen. Unter wissenschaftlichen Aspekten mag man bemängeln, dass die Darstellung räumlich und zeitlich nicht genügend differenziert sei und einzelne Erscheinungen eher eklektisch belegt würden, aber die exakten Anmerkungen und das ausführliche Literaturverzeichnis ermöglichen jederzeit auch eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Buch. Insgesamt bietet es ein umfassendes, anschauliches und realistisches Bild von den Lebensverhältnissen der Heuerleute in Nordwestdeutschland; es ist eine Bereicherung für die heimatgeschichtliche Literatur unserer Region.

Ralf Weber hält sich mit Wertungen zum Verhältnis zwischen Bauern und Heuerleuten zurück und entwickelt seine nüchterne Darstellung stringent und detailliert (1687 Anmerkungen auf 121 Textseiten!) aus den eingesehenen Archivmaterialien. Verlässlich analysiert und diskutiert er die Gründe für die massive Verschlechterung der Situation der Heuerleute in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts und reflektiert umsichtig die Kontroversen der Fachliteratur. Aus den Berichten der einzelnen Ämter schöpft er viele aufschlussreiche Informationen zu den Lebensverhältnissen der Heuerleute bis auf die Ebene der Kirchspiele  hinunter. Da stellen sich dann die Zustände im Amt Friesoythe, wo es kaum Heuerleute gab,  als völlig anders dar als etwa im Raum Damme/Neuenkirchen. Hier wäre es hilfreich gewesen, wenn der Autor nicht nur die Verwaltungseinheiten, sondern auch die größeren Natur- und Wirtschaftsräume in den Blick genommen hätte: Die enge historische Verbindung von Damme/Neuenkirchen zum Osnabrücker Raum, die räumliche Nähe von Dinklage, Essen und Löningen zum Artland und die ganz andere naturräumliche Ausstattung des Amtes Friesoythe mit seinen vielfältigen Beziehungen zum friesischen Wirtschaftsraum könnten auch für die unterschiedliche Entwicklung des Heuerlingswesens in diesen Teilregionen weiteren Aufschluss geben.

Die verdienstvolle Arbeit, der eine gründliche Endkorrektur gut getan hätte („die Brink“, „der Hufe“, S. 20;  „Heuerlingstöge“= plattdeutsch: „Hürmannstäöge“, S. 13; falsche Berechnungen S. 45 und S. 128 unten), schließt mit der richtigen Feststellung, dass erst die Auswanderung die Notlage der Heuerleute gelindert habe. Ein Ausblick auf die weitere demographische Entwicklung des Oldenburger Münsterlandes zeigt jedoch nach den auswanderungsbedingten Bevölkerungsverlusten um die Mitte des  Jahrhunderts wieder einen starken Anstieg der Bevölkerungszahl zum Ende des Jahrhunderts: Offensichtlich hat erst  die Intensivierung der Landwirtschaft  in der Kaiserzeit (Kultivierung der Ödflächen, Kunstdünger, Fruchtwechsel mit Futterbau, Schweinehaltung auf der Basis von Importgerste u.a.) es geschafft, die Massenarmut im Oldenburger Münsterland zu überwinden und nun einer reduzierten Zahl von besser ausgestatteten Heuerstellen und darüber hinaus einer Vielzahl von Pächtern und Neusiedlern eine knappe, aber auskömmliche Lebensgrundlage ermöglichen.

Engelbert Beckermann