Im letzten Kriegsjahr wurde ich geboren. Aufgewachsen bin ich bei meinen Großeltern zusammen mit meiner unverheirateten Mutter.
Nach ihrer Schwangerschaft musste sie den Hof des Bauern verlassen.
Alle Menschen der Umgebung ahnten, dass sie das Kind vom verheirateten Bauern´´unter ihrem Herzen trug.
Als ihre Eltern sie dann als einzigen Ausweg auf ihrem Kotten aufnahmen, hat meine Mutter immer sehr schwer arbeiten müssen. Aus meiner Erinnerung heraus habe ich nicht nach meinem Vater gefragt.
Ich habe dann aber spätestens mit Beginn der Schulzeit gemerkt, dass ich eine Außenseiterrolle hatte.
Im öffentlichen Leben wurde ich deutlich ausgegrenzt.
Zunehmend wurde mir klar und ich habe das deutlich gespürt – ja, es lag ständig in der Luft – , dass ich eigentlich ein Kind der Schande war.
Ich habe das Gefühl gehabt, dass es mich eigentlich gar nicht geben dürfte.
Nie habe ich gewagt, mit meinen Großeltern oder meiner Mutter darüber zu sprechen. Ich spürte allerdings, dass die Umgebung meine Mutter zumindest indirekt mit dem Vorwurf begegnete, dass sie irgendwie Schuld auf sich geladen hatte. Erst mit 17 oder 18 Jahren habe ich dann die Problematik durchschauen können, weil ich auf der einen Seite solche Gedanken auch verdrängt habe, andererseits mochte ich auch niemanden in meinem Umfeld danach fragen.
Meine Mutter hatte in dieser Situation – das ist mir heute klar – ähnlich wie andere Leidensgenossinnen, von denen ich später erfahren habe, nicht die geringste Chance, einen Lebensgefährten zu finden.
Hier kam allerdings sicherlich noch dazu, dass viele Frauen damals keinen Mann fanden, weil sie als Soldaten in Russland gefallen waren. Sehr viel später hat meine Mutter dann mehr in einem Nebensatz erzählt, dass ihr Verlobter an der Front den Tod gefunden hat. Für einen Außenstehenden mag das kaum zu verstehen sein, aber ich habe nie gewagt, mit meiner Mutter über die wahren Hintergründe meines Daseins zu sprechen. Ich habe es später über einen verwandten Geistlichen erfahren, der auch dafür gesorgt hat, dass ich in einer Klosterschule aufgenommen wurde, in der ich erstmals wirklich frei durchatmen konnte.
Dort war ich eine Gleiche unter Gleichen und bei den Ordensfrauen habe ich mich sehr wohl gefühlt.
Nur ihnen habe ich es zu verdanken, dass ich einen guten Beruf erlernen konnte. Als ich dann meinen späteren Mann kennen lernte, wurde ich noch einmal in die alten Bahnen zurückgeschlagen: meine angehende Schwiegermutter lehnte mich mit Vehemenz wegen meiner „Vorgeschichte“ ab. Erst der verwandte Geistliche hat dann den Ortspastor aufgeklärt. Der wiederum hat einige ernste Worte mit der Mutter meines späteren Mannes gesprochen …
Obwohl mein Mann und ich meine Mutter in späteren Jahren zu uns in die Hausgemeinschaft genommen haben, ist das „Kernproblem“ nie angesprochen worden. Auch unsere drei heranwachsenden Kinder haben – wie sie heute aus der Rückschau übereinstimmend feststellen können – eine gewisse Spannung im Familienalltag verspürt, die aber nie zu einer offenen Aussprache oder sogar Auseinandersetzungen geführt hat.
Nach dem Tode meiner Mutter waren da immer noch diese traumatische Fragen und das unverarbeitete Problem meiner Herkunft. Auf Anraten meines Hausarztes habe ich mich in eine psychosomatische Behandlung begeben. In einer mehrwöchigen Heimbehandlung gab mir dann die Fachtherapeutin einen wirklichen schweren Stein in die Hand.
Nach kurzer Zeit riet sie mir, den Stein endgültig fallen zu lassen. So bin ich sinnbildlich auf den wahren seelischen Ballast aufmerksam gemacht worden, der mein Leben maßgeblich mitbestimmt hat. Danach konnte ich vieles Belastende tatsächlich abwerfen wie einen schweren Stein.
Außerdem habe ich zunehmend erfahren, dass ich dieses Schicksal mit anderen Menschen in der Region geteilt habe. Aber es wurde nicht offen darüber gesprochen
Dieser Zeitzeugenbericht stammt aus dem Buch: “Wenn der Bauer pfeift, dann müssen die Heuerleute kommen!” von Lensing/Robben, 1. Auflage Seite 171/172