Das Emsland – Das am dünnsten bevölkerte Gebiet
Wer den elendsten Winkel Deutschlands sehen will, der darf ihn nicht im verlästerten Osten suchen. Das allertrübseligste, das man auf allen Fahrten durch das weite Reich finden kann, liegt im äußersten Westen, dicht an der holländischen Grenze. Dort dehnt sich das neuerdings zu einer gewissen traurigen Berühmtheit gelangende Emsland aus, bestehend aus den fünf zur Provinz Hannover gehörenden Kreisen Aschendorf, Hümmling, Lingen, Bentheim und Meppen. Von der Heimatprovinz und von allem übrigen Verkehr fast abgeschnitten, breitet sich über das ganze Gebiet ein endloses Moor, unterbrochen nur von dem unfruchtbaren, aus Steingeröll zusammengeschütteten Hügelzuge des Hümmlings. Nicht viele Deutsche, die sonst in der Heimatkunde gut Bescheid wissen, haben eine Ahnung davon, daß wir uns hier in dem am dünnsten bevölkerten Gebiete des Reiches befinden. Während im Reich im Durchschnitt 133 Menschen auf den Quadratkilometer wohnen, sind es im Emslande auf derselben Fläche nur 43 Einwohner und im Hümmling sogar nur 26! Die Menschen haben hier also Platz und in der Tat finden wir ganz arme Bauernhöfe, zu denen 200 Morgen Land oder sogar noch mehr gehören.
Aber der weitaus größte Teil dieses Bodens ist nicht in Kultur, sondern liegt als unzugängliches Moor oder als dürre Heide brach.
Trotz ihres verhältnismäßig großen Landbesitzes leiden die Leute buchstäblich Hunger und die Abwanderung nach den Industriegegenden nimmt immer mehr zu. Auch das Vieh ist meist in recht elendem Zustande, außerdem viel zu gering an Zahl. Für viele kleine Landwirte ist, so unglaublich das scheinen mag, die Haltung von einigen Hühnern die Haupteinnahmequelle, die eine solche Bedeutung hat, daß die Familien keines der kostbaren Eier, die allein einige Pfennige ins Haus bringen, selbst zu genießen wagen.
Das allerschlimmste sind aber die Wohnungen, in denen Mensch und Vieh beisammen hausen. Es gibt Dörfer, in denen jedes Haus so baufällig ist, daß es nur mit daran geklemmten Streben aus Baumpfählen notdürftig aufrechterhalten werden kann, und daß die Polizei erklärt, eigentlich müsse sie sämtliche Wohnungen wegen Einsturzgefahr schließen.
Vielfach enthalten diese Häuser nur einen einzigen Raum, in dem an Stelle des Herdes eine Pflasterung aus Backsteinen auf dem Fußboden das offene Feuer aufnimmt, über dem an einer Kette der Kessel hängt, in welchem für Menschen und Vieh gekocht wird. Der Rauch zieht durch einen aus Brettern gezimmerten Schornstein und sonst durch die Löcher im Dache und in den Wänden ab. Nirgends sieht man Betten, und fragt man, wo denn die Bewohner schlafen, so werden die sogenannten „Butzen” geöffnet, enge Wandschränke, in den sich nachts alles auf Stroh eng zusammenpfercht. An einer Stelle schlafen in zwei solchen „Butzen” die Eltern und acht Kinder, Söhne und Töchter im Alter von 21 Jahren bis drei Monaten! Die Folge dieser Schlafhöhlen ist eine ungeheure Verbreitung der Schwindsucht bei dieser ganz ländlichen Bevölkerung, eine Tuberkulosesterblichkeit, wie sie ebenfalls nirgends sonst im Reiche vorkommt.
Foto: Kreismuseum BersenbrückDas Gebiet, um welches es sich hier handelt, ist einst reich und glücklich gewesen. Einzelne Städte in seiner Mitte, so Meppen, zeigen noch die Spuren besserer Zeiten, wo hier die Baukunst blühte. Dann aber hat die unglückliche politische Lage, die Einklemmung zwischen Holland, Oldenburg und das Münsterland, und haben die Schulden, welche die Landesfürsten, die Grafen von Bentheim, durch den Dreißigjährigen Krieg aufgebürdet erhielten, das Gebiet immer mehr in Verfall gebracht, ohne die Schuld der Einwohner, die nicht immer so zurückgeblieben waren, wie sie heute auf jeden Besucher wirken.
Vor allem ist versäumt worden, das Gebiet durch Straßen aufzuschließen.
Foto: Kreisbildstelle Lingen112 Ortschaften des Emslandes sind ohne jede Verbindung mit der Außenwelt durch eine befestigte Straße, von den 63 Gemeinden des Kreises Meppen liegen nur 18 ganz an Straßen und nur 16 berühren wenigstens teilweise befestigte Wege.
Bis vor kurzem ist es hier noch vorgekommen, daß im Winter die Verstorbenen drei und vier Wochen über der Erde liegen mußten, ehe man sie zur Beerdigung abholen konnte. Die vorhandenen Straßen aber sind zeitweilig unbenutzbar, weil sich das Grundwasser ganz unberechenbar staut. Am schlimmsten ist nämlich wasserwirtschaftlich an dem Gebiete gesündigt worden.
Jedes Jahr ersäuft ein großer Teil der Ernte infolge von Überschwemmungen, das Heu kann vielfach überhaupt nicht hereingebracht werden und eine weitere Folge des hohen Grundwasserstandes ist, daß in fast jedem Monat des Jahres Bodenfröste eintreten; manchmal ist der August der einzige frostfreie Monat und manchmal selbst dieser nicht.
Die Holländer nennen dieses Gebiet „Muffrika” und haben das böse Wort geprägt: „Wo die Kultur aufhört, fängt Deutschland an.”
Das ist nun leider, so sehr uns diese Erkenntnis schmerzen muß, von holländischer Seite aus betrachtet, die Wahrheit. Mitten durch diese Moore geht nämlich die Grenze, gerade wie ein Linealstrich.
Beiderseits ist derselbe Boden, beiderseits hat noch vor kaum einem Jahrhundert dasselbe Klima geherrscht und haben dieselben Menschen gewohnt.
Inzwischen aber haben die Holländer durch ihre berühmte „Fehnkultur” jedes Quadratmeter des ihnen gehörenden Teiles aufgeschlossen und zu unerhörter Blüte gebracht.
Während auf deutscher Seite nur Verfall und Trübseligkeit herrschen, ist das holländische Grenzgebiet dicht besiedelt, so daß es ein einziges Dorf ohne Ende zu bilden scheint.
Die Häuser sind sauber und in lachenden Farben bemalt, die Menschen sehen behäbig und zufrieden drein, und sie können es wohl sein. Denn während die deutschen Landwirte auf ihren großen Flächen hungern, zieht der Holländer aus wenigen Morgen, die als musterhaft bestellter Garten um sein Haus herum liegen, riesige Einnahmen durch Frühgemüse-kulturen, die er auf denselben Boden betreibt, der in dem verwilderten deutschen Teile bis in den Hochsommer hinein Fröste behält; und dieses Frühgemüse verkauft der Holländer für teures Geld ¬nach Deutschland.
Nicht weniger als 75.000 Hektar konnten im Emslande nach holländischem Muster in blühende Siedlungen verwandelt werden. Es ist bei der Enge unseres Raumes die höchste Zeit, daß da etwas geschieht. Darum haben die zuständigen Regierungsstellen in diesen Tagen zuerst eine Pressefahrt veranstaltet, damit man im großen Deutschland endlich erfährt, wie es in diesem Gebiete aussieht, das von hoher Regierungsstelle aus mit Recht schon früher als ein „Schandfleck Preußens” bezeichnet worden ist. Demnächst soll auch eine Anzahl von Abgeordneten aller Parteien „Muffrika” entdecken. Und dann soll mit allen Kräften des Staates und des Reiches darangegangen werden, um aus dem Emslande denselben blühenden Garten hervorzuzaubern, den uns durch tüchtige und überlegte Arbeit die Holländer auf ihrem Teil als Muster hingestellt haben. Ein Menschenalter Zeit wird das freilich kosten, darum darf nicht lange mit dem Anfang gewartet werden.