Aus dem Leben einer Heuerlingsfrau

Der Bericht von Theresia Brüning, die in einem Heuerhaus aufgewachsen ist und dann mit vierzehn Jahren direkt nach der Volksschule noch einige Jahre – ganz selbstverständlich für eine Heuerlingstochter  – als Magd auf einem Bauernhof im benachbarten Dorf gearbeitet hat.

Sie erzählt über ihre Mutter:

 

 

 

 

 

 

 

 

Familienfoto Heuerleute Brinker, links neben ihrer Mutter im hellen Kleid steht Theresia.

Aus dem Leben einer Heuerlingsfrau

Ein um etwa 1800 eingeheirateter Vorfahre war Schreiber. Mein Urgroßater und mein Großvater waren Weber und Musiker. Wie mein Vater berichtete, habe mein Großvater jährlich manchmal 200 Mark mit dem Musizieren auf Bauernhochzeiten verdient. Mein Vater fand keinen Gefallen am Musizieren. Er verdiente beim Bau des  Dortmund – Ems –  Kanals, wie so viele junge Männer damals, Geld dazu. Das Weberhandwerk brachte auch nicht mehr viel ein, da überall große Fabriken mit der Weberei begannen. Mein Großvater hatte noch zwei Webstühle besessen und zeitweilig zwei Gesellen beschäftigt. Wenn man dabei das kleine Haus betrachtet und noch acht Kinder mitgerechnet, hatte die Hausfrau wohl alle Hände voll zu tun. Aber davon wird auch im Tagebuch meines Vaters nichts erwähnt!

Mit  „unserem” Bauern verband uns  ein den Umständen entsprechend recht gutes Verhältnis, wobei mein Vater sehr gefügig war und die Beziehung Bauer – Heuermann respektierte. Nachdem seine Mutter gestorben war, und seine jüngste lebende Schwester sich verehelicht  hatte, heiratete mein Vater zum ersten Mal 1905. Bis 1910 wurden drei Jungen geboren. Dann starb 1911 im Oktober seine Frau an Tuberkulose. Sie hatte sich diese Krankheit zugezogen, nachdem sie ihr Ehebett der Schwester meines Vaters zur Aussteuer mitgegeben hatte. Es muss wohl kein Geld da gewesen sein, um der Schwägerin ein neues Gerät zu kaufen. Die Frau meines Vaters erhielt dafür das Oberbett einer jüngeren Schwester meines Vaters, die kurz vorher an Tuberkulose gestorben war. Als jüngste Schwester der Frau meines Vaters vom Tod ihrer Schwester erfuhr, soll sie gesagt haben: „Den Bernd kannst du nicht allein lassen, den musst du nun heiraten”.

So heiratete meine Mutter mit 21 Jahren ihren Schwager am 13. Februar 1912, nahm  3 kleine Kinder als ihre eigenen an und übernahm die Pflege des alten Schwiegervaters. Dazu noch die Pflichten einer Heuerligsfrau. Im Herbst 1913 wurde ihr erstes Kind geboren.

1914 brachte Weltkrieg aus.

Mein Vater musste den Krieg vom Anfang bis zum Ende mitmachen. In der Kriegszeit starb der Großvater, es wurden noch zwei Kinder geboren. Was meine Mutter damals mitgemacht hat, können wir heute nur noch ahnen.

Weil durch die Verwandtschaft von anno dazu mal unser Haus unser Eigentum war, brauchte beim Bauern nicht zu viel gearbeitet zu werden. Aber auch so wird es nicht an Arbeit gemangelt haben. Je Scheffelsaat muss ein bestimmter Teil an den Bauern abgegeben werden und für je zwei Scheffelsaat einen Tag unentgeltlich geholfen werden. Nach dem ersten Weltkrieg wurde statt mit Korn mit Geld bezahlt.

Die Bauersfrau nahm meine älteste Schwester mit zwei Jahren zu sich. Wohl aus Ohnmacht sagten meine Eltern zu und gaben ihr Kind außer Haus. Uns jüngeren sagte Vater später:  „… und wenn ihr nur trockenes Brot zu essen hat, geht kein Kind aus dem Haus. Ich habe es schwer bereut”. Wenn er im Krieg im Urlaub war, wurde auch meine Schwester geholt. Die sagte aber nur: „Geht der fremde Mann endlich wieder.”  Sie hatte bis zu ihrer Entlassung wenig Kontakt zu ihrem Elternhaus. Es muss für Mutter sehr schwer gewesen sein, zumal wir bei dem Bauern auf dem Hofraum wohnten. Jeden Tag sah sie das Kind und konnte ihm doch nicht zeigen, wie lieb sie es hatte. Im Abstand von jeweils eineinhalb bis zwei Jahren wurden insgesamt zwölf Kinder geboren. An Verhütung oder gar Abtreibung wurde aus christlicher Überzeugung gar nicht gedacht. Das Sprichwort: „Mehr Kinder, je mehr Vater unser” hatte große Bedeutung. Aber wie hat meine Mutter das alles verkraftet? Es bleibt für uns Jüngere eine große Frage, die wir uns als Kinder nie gestellt haben.

Wenn wir auch nicht die meiste Arbeit beim Bauern zu leisten hatten, so kam doch alle Vierteljahre die große weiße Wäsche, die –  egal ob Mutter in Umständen war, oder ein Kind stillte –  getan werden musste .

Nun vergleiche man den Zustand von damals mit dem von heute. Am ersten Tag wurde die Wäsche  in einer großen hölzernen Wanne in lauwarmer Lauge eingeweicht. Mit bloßen Füßen wurde die Wäscher getreten, damit alles gut durchziehen konnte. Am anderen Tag wurde alles mit der Hand ausgewrungen. Weil damals fast alles aus selbst gewebtenten Leinen gefertigt war, war das bestimmt keine leichte Arbeit für eine Hochschwangere. Nach dem Kochen der Wäsche im großen Futterkessel, der vorher gut gereinigt worden war, oder im Waschkessel, musste alles auf dem Rubbelbrett oder mit der Hand in der heißen Waschlauge gewaschen werden. Danach wurde alles dreimal gespült. Das Wasser musste aus der „Pütte” (Brunnen) geholt werden, etwa 20 bis 30mal pro Waschgang. Danach war aber noch lange nicht Feierabend. Hat meine Mutter den überhaupt je gekannt? Zuhause warteten ja noch die Kinder. Die Kühe wollten gemolken werden. Das war alles nicht so einfach wie heute. Für die Schweine wurde der Futterkesseln gekocht. Die kleinen Kartoffeln, Futterrübenblätter oder Brennnesseln kamen in den Kessel mit ein oder zwei Eimern Wasser. Wenn alles gar war, musste es verkleinert werden, und dann konnten die Schweine gefüttert werden. Das war eine Zeit raubende Arbeit und der Tag hat nur 24 Stunden.

Nebenbei musste der eigene Gemüsegarten gepflegt werden. Auf den Kartoffeln – und Rübenfeldern musste die Mutter im Frühjahr tagelang beim Bauern jäten und hacken. Am schlimmsten aber war die Erntezeit. Als mein Bruder Paul, geboren am 8.7.1926, klein war, musste einer der älteren Brüder, er war sechs Jahre alt, den Kleinen aus der Wiege nehmen, in einen Handwagen legen und zum Mutter aufs Feld bringen. Sie war beim Bauern beim Roggen mähen, und die Zeit, nachhause zu gehen und das Kind zu stillen, gab es nicht. Sie setzte sich dann hinter eine Roggen Garbe und stillte den Kleinen.

Zwei Jahre später wurde ich im August geboren. Als meine Brüder sechs und acht Jahre alt waren, mussten sie mit Mutter aufs Feld und das Korn mit dem Bick zusammenziehen, damit sie nur noch die Garben zu binden brauchte. Sie war im achten Monat schwanger mit dem zehnten Kind.

Ich erinnere mich an einen Sommertag, als die Mutter wieder beim Bauern auf dem Felde arbeitete. Wir waren mit den Bauernkindern auf dem. Ich wusste, dass Mutter krank war und ihr die Arbeit schwer fiel, ich selber war im ersten oder zweiten Schuljahr und sollte Mutter beim Garben zusammenkratzen helfen. Nun sah ich die junge Bauersfrau, die sich an der großen Dielentür anlehnte und aufs Feld hinausschaute. Voll Zorn und Grimm habe ich sie angesehen und bei mir gedacht: „So eine Ungerechtigkeiten. Mutter ist krank und muss zum Roggen mähen, und die braucht das nicht.”

Dieses Bild habe ich noch heute vor Augen. Ich ahnte damals als Kind ja nicht die volle Abhängigkeit vom Bauern. Wenn die Kinder neun oder zehn Jahre alt waren, kamen sie normalerweise als Kuhjunge oder Köchin zu einem  Bauern.

 Bernd, der zweiter Halbbruder, hat als Säugling Krämpfe gehabt und war seitdem behindert. Er kam als Kind zu Vaters Bruder, der selber keine Kinder hatte. Als meine Eltern bemerkten, dass er es dort nicht gut hatte, nahmen sie ihn wieder zu sich. Für uns Kleinen war er dann später das Kindermädchen. Er spielte mit uns und führte uns im Bollerwagen spazieren. Sein Verstand reichte auch später nicht an den eines Zehnjährigen heran, aber man konnte sich ganz auf ihn verlassen.

Meine beiden 12 und 13 Jahre alten  Schwestern waren nicht zuhause, um der Mutter zu helfen. Von den sechs Jungen vor mir konnte Mutter wohl auch keine große Unterstützung erwarten. Meinen Vater kannte ich nur als „älteren Mann”, der durch eine Verletzung etwas hinkte. Als Nebenverdienst hatte er den Milchwagen nach Plantlünne zu fahren, so dass er jeden Vormittag außer Hauses war. Als mein  jüngster Bruder 1931 geboren wurde, war meine Mutter schon krank. Sie musste an der Galle und später noch zweimal am Unterleib operiert werden.

Um die Eltern zu unterstützen, gaben die älteren Geschwister einen Teil ihres verdienten Geldes zuhause ab. Kindergeld wie heute gab es nicht. 1935 heirateten meine beiden ältesten Brüder und meine älteste Schwester. Da alle sehr genügsam waren, hatten sie sich noch eine kleine Aussteuer erspart.

Wir drei Jüngsten brauchten als Kinder nicht aus dem Haus. Der Zweitjüngste starb an Krämpfen, während meine Mutter noch im Wochenbett lag. Ich erinnere mich, dass Mutter davon erzählte:  „Ich wusste, dass er tot war. Dennoch habe ich ihn bis zum nächsten Morgen bei mir im Bett gehalten. Ich konnte das kleine Ding doch nicht einfach weg legen.”

Obwohl der Vater, wahrscheinlich als Folge der Kinderzahl und seiner Behinderung am Bein, sehr streng war, haben wir eine schöne Kindheit verbracht. Trotz ihrer Krankheit spielte Mutter an den Sommerabenden manchmal mit uns „Blinde Kuh” oder  „Sack hüpfen”. Mit mir spielte sie „Ball an die Wand”, was sie mit  2 und 3 Bällen konnte. Darauf war ich richtig stolz. Sie muss auch sehr gut im Handarbeiten gewesen sein, denn begeistert zeigte sie mir ihre Handarbeiten aus der Schulzeit. Alles wurde schön aufbewahrt. War die Woche ausgefüllt mit landwirtschaftlichen Arbeiten, so wurden im Sonntagnachmittag nach dem Kirchgang und dem Lesen der Handprostille und des Kirchenbotens unsere Kinderstrümpfe und die Socken der Jungen gestopft. Einmal hatte Mutter durch eine Bekannte etwas vom „Strickstopfen“ gehört. Sie ließ nun nicht mehr locker, bis sie diese Kunst beherrschte. Man konnte damit in den selbstgestrickten Strümpfen die große Löcher vor den Knien so stopfen, dass es fast nicht mehr auffiel. Sparsamkeit war Mutter zur zweiten Natur geworden.

Wir Kleineren waren nun soweit herangewachsen, dass sie wenig Arbeit mit uns hatte, wir konnten vielmehr ihr schon einige Aufgaben abnehmen.

Dann kam der zweite große Krieg.

 Die beiden ältesten Brüder wurden sofort eingezogen. Danach wurde mein Vater ernsthaft krank. Er starb im Februar 1940, 61 Jahre alt, an Embolie und Herzversagen. Ich sehe Mutter noch weinend am Herd stehen und höre sie sagen: „Ich hätte ihn so gerne noch gepflegt, wenn er nur geblieben wäre.“ Meine jüngste Schwester kam wieder ins Haus, um der kränkelnden mit Mutter zu helfen und für sie die Arbeiten beim Bauern zu verrichten.

Der Krieg holte alle meine Brüder, einen nach dem anderen, aber einer war immer zuhause, um die Männerarbeit zu verrichten. Hatte er das Alter zur Einberufung, dann kam der nächste nach Hause, bis auch er eingezogen wurde. Nach dem Fünften erhielt Mutter die Nachricht, sie könne einen Sohn reklamieren. Als die Reklamation lief, kam die Nachricht, gerade derjenige sei in Russland gefallen. Ein Jahr später wurde ihr eigener ältester Sohn Trichinen  krank entlassen. 1943 kam die  Vermisstenachricht des dritten Sohns. Gott sei Dank hatte er sich kurze Zeit später aus einem Lazarett gemeldet, er hatte den linken Arm verloren. 1944 fiel der jüngste der eingezogenen acht Söhne mit 18 Jahren.

War es der Krebs, der Mutter zu schaffen machte oder konnte ihr Herz das alles nicht mehr verkraften? Sie starb im Mai 1945 kurz nach dem Ende des Krieges im Alter von 54 Jahren, ausgezehrt und verbraucht.

Nie habe ich sie verdrießlich oder böse gesehen. Wenn sie Ärger hatte, so hat sie uns das nicht gezeigt. Unsere Dummheiten hat sie immer stillschweigend ausgebügelt. Der jüngste Halbbruder sagte 1945, als er aus der Gefangenschaft kam: “ich habe sie nie verzagt gesehen. Sie hat uns nie merken lassen, dass wir nicht „ ihre“ Kinder waren”.

Er weinte dabei still.

Theresia Brinker (2015) Archiv Robben