Es ist besonders erfreulich, dass mit der Arbeit von Frank Ostermann erstmals auch eine kompakte Familiengeschichte aus fünf Generationen Heuerlingsdasein hier vorgestellt werden kann.
Von besonderem Wert ist auch deren Einbettung in die jeweiligen historischen Rahmenbedingungen der Region.
Frank Ostermann stammt von einem Bauernhof in Haselünne-Stadtmark und ist 42 Jahre alt.
Er unterrichtet als Studienrat für Wirtschaftswissenschaften, Politik und Geschichte an den BBS Meppen.
Heinrich Ostermann war der Großvater,
der als junger Mann noch bei Bauer Übermühlen in Vormeppen in der Heuer war und später Bauer in der Stadtmark wurde.
Ich bin der Spross emsländischer Heuerleute!
Frank Ostermann gibt eine Einführung in seine Familiengeschichte:
Ich wollte schon immer wissen, wer meine Vorfahren waren.
Als Kind löcherte ich meine Großeltern, doch sie konnten mir lediglich etwas über ihre eigenen Eltern und Großeltern sagen. Im Jahre 1995 brachte der Berßener Genealoge und Pastor i. R. Bernhard Loxen dann deutlich mehr Licht in das Dunkel der Vergangenheit. Er überreichte meiner Mutter den von ihm erforschten Stammbaum des Ostermann-Zweiges seiner Familie – und damit auch meiner Vorfahren – in einem roten Einband.[1] Darin standen die Namen, Geburts-, Heirats- und Sterbedaten meiner Ahnen väterlicherseits, mit Ortsangaben, mit Informationen zu den Kindern, Geschwistern und Taufpaten, immerhin zurückreichend bis in das Jahr 1737. Außerdem enthielt der Band Angaben zu ihrer beruflichen Tätigkeit, vielmehr den Stand, in den sie hineingeboren worden waren.
Hierzu las ich bei all meinen Vorfahren in der Ostermann-Linie: „Heuerleute beim Bauern X in Y“. Dieser Bauer X und sein Standort Y wurde von Generation zu Generation gewechselt, von Lohe ging es auf die Kreyenborg, dann zu einem anderen Bauern in Lehrte und schließlich nach Vormeppen. Sowohl bei meiner Mutter als auch bei mir hatte der Pastor Loxen damit das Interesse an der Genealogie geweckt. Wir wollten mehr wissen. Wer waren die Vorfahren der Frauen, die in die Familie Ostermann eingeheiratet hatten, wer die meiner Mutter? Was taten sie zu Lebzeiten? Wie weit ließen sich die Linien zurückverfolgen? Und was genau hatte es mit diesem Heuerlingswesen auf sich?
Was folgte, waren einige Jahre der Ahnenforschung mit ihren klassischen Methoden: Befragung der Senioren in der Verwandtschaft, Suche nach alten Grabsteinen, Besuche bei der Familienforschungsstelle in Meppen, dort Durchforstung alter Tauf-, Heirats- und Sterbebücher der Kirchengemeinden auf Mikrofiche. Später half das Internet, an die Daten anderer Genealogen mit gemeinsamen Vorfahren zu gelangen. Schritt für Schritt wuchs mein Stammbaum, er wurde dichter und höher. Viele Äste in seiner Krone enden in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Der Begriff „Heuermann“ oder „Heuerleute“ begegnete uns immer öfter. Ich zähle mittlerweile 45 Personen in meiner Ahnentafel, die ausdrücklich so bezeichnet wurden.
Bei vielen anderen lässt sich aufgrund ihrer Abstammung oder der Heuerlingstätigkeit ihrer Kinder vermuten, dass auch sie Heuerleute waren. Mit Ausnahme der Familie meiner Großmutter väterlicherseits – hier haben wir es überwiegend mit Kleinbauern, Viertel-, Halb- und Vollbeerbten aus Fullen zu tun – verdingte sich die große Mehrzahl meiner Ahnen als Heuerlinge. Erstaunlich war dabei für mich zunächst auch die Begrenztheit des Herkunftsgebietes all dieser Menschen: Mehr als 95 % stammten aus dem mittleren Emsland, aus den Bauernschaften und Dörfern um Haselünne und Meppen. Auf den zweiten Blick ist sicherlich sowohl die Homogenität des Berufsstandes als auch die der geografischen Herkunft meiner Ahnen erklärbar. Eine soziale Mobilität, man könnte auch sagen Aufstiegsmöglichkeit, der Heuerleute in der agrarischen Klassengesellschaft des 18. und 19. Jahrhunderts war quasi nicht existent.
Man kam zur Welt als Heuerlingskind, man heiratete – wenn überhaupt – ein anderes Heuerlingskind, man suchte eine Heuerstelle oder übernahm die der Eltern oder Schwiegereltern, arbeitete für den Rest seines Lebens als Heuerling – und starb als Heuerling.
Bauern heirateten keine Heuerleute, sie verkehrten i.d.R. nicht einmal mit ihnen.[2] Commercium et conubium gingen wie in jeder Klassengesellschaft auch hier Hand in Hand. Beruflicher Aufstieg durch Bildung war Heuerleuten ebenfalls verwehrt, da der Besuch höherer Schulen schon allein an der Finanzierung scheiterte. So blieben die Heuerleute unter sich. Die räumliche Mobilität war in jener Zeit ebenfalls sehr gering, besonders in der agrarischen Unterschicht und noch viel mehr in der unterbäuerlichen Schicht des Emslandes mit seinen Mooren und seiner miserablen Verkehrsinfrastruktur. Die meisten Heuerleute hatten kein eigenes Pferd und würden auch nur dann eines von ihrem Bauern leihen, wenn der wirtschaftliche Nutzen die abzuleistende Mehrarbeit aufwog.[3] Wie weit kam man unter diesen Bedingungen schon als heiratsfähiger Heuerlingsspross, wen lernte man kennen? Außer den anderen Jugendlichen des eigenen Dorfes bekam man höchstens einmal einige des Nachbardorfes, vielleicht auf dem örtlichen Schützenfest, zu Gesicht. Oft genug mussten Viehhändler als Heiratsvermittler fungieren, da diese auch Heuerlingskinder in benachbarten Ortschaften kannten, die noch unversorgt waren.
Aufgrund dieser Umstände bilden meine Ahnen also nun eine relativ homogene „Masse“ und ich kann wohl, ohne allzu sehr zu verallgemeinern, feststellen: Ich bin der Spross emsländischer Heuerleute! Dies ist nach meiner Meinung gewiss nichts, wofür man sich schämen müsste. Eine solche Erkenntnis hat vielmehr etwas Identitätsstiftendes. Wer wissen will, wer er ist, muss herausfinden, woher er kommt. Und hat man Vorfahren wie ich, deren Leben so hart und entbehrungsreich war, wie das bei Heuerleuten der Fall ist, wird man etwas demütiger. Man hört auf, die Bequemlichkeiten und Vorzüge unseres modernen Lebens für selbstverständlich zu halten. Zugleich empfindet man bei der Beschäftigung mit diesem Thema aber auch immer wieder eine Wut auf die gesellschaftlichen Verhältnisse jener Zeit und die Institutionen und Interessengruppen, die sie stützten.
Diese Verhältnisse genauer zu erkunden war mein Antrieb, diese Arbeit zu schreiben. Ich wollte herausfinden, was es für meine Ahnen wohl bedeutet haben musste, im achtzehnten oder neunzehnten Jahrhundert bei einem emsländischen Bauern in die Heuer zu gehen. Was das für ein Leben war. In welchem gesellschaftlichen Umfeld und welchem politischen System die Heuerleute lebten, welche Rolle sie in diesem System einnahmen und welche Einstellungen und Überzeugungen sie dazu wohl gehabt haben dürften. Sie haben mir keine schriftlichen Aufzeichnungen hinterlassen, denen ich diese Informationen direkt entnehmen könnte. Ganz allgemein ist sehr wenig Schriftliches von Heuerleuten erhalten geblieben. Ihre Zeitgenossen schrieben ebenso wenig über sie nieder.
Viel zu lange interessierte sich nicht einmal die Geschichtswissenschaft unserer Zeit für sie.
Immerhin hat Bernd Kessens das Thema literarisch bearbeitet und historische Romane verfasst, die einen tiefen Einblick in die Lebenswelten der Heuerleute erlauben. Die Forschung von Bernd Robben und das von ihm ins Leben gerufene Projekt versucht nun auch die Lücke in der Geschichtsschreibung zu schließen. Obgleich ich mich nach wie vor in erster Linie für die Geschichte meiner eigenen Familie interessiere, hoffe ich, einen kleinen Beitrag zu diesem Projekt über meinen genealogischen Ansatz leisten zu können. Über das Genealogische hinaus betreibe ich jedoch kaum Quellenforschung, sondern stütze mich auf Sekundärliteratur von Heinz Jakobs u.a.
Ich möchte historische Ereignisse und Entwicklungen schildern, die zur Zeit der jeweiligen Ahnengeneration im mittleren Emsland abliefen und die ein Schlaglicht auf die Verhältnisse werfen, in denen die Heuerleute lebten. Die mir aus dem Leben meiner Ahnen bekannten Daten werde ich darin einflechten. Ich hoffe, dass auf diese Weise am Ende eine relativ dichte Familiengeschichte entsteht. Zu diesem Zweck werde ich mich bezüglich der ersten und letzten von mir beschriebenen Generation vom Leitthema „Heuerlingswesen“ etwas entfernen müssen, denn bei diesen handelte es sich um Ackerbürger bzw. Kleinbauern.
[1] s. Loxen
[2] vgl. Lensing/Robben, S. 149 ff.
[3] Vgl. Lensing/Robben, S. 208
Die Geschichte der Familie Ostermann –
200 Jahre Heuerlingsdasein im Emsland
von Frank Ostermann
Inhalt
Einleitung
- Hermann Bernhard Ostermann und Anna Maria geb. Berens – Ackerbürger in Haselünne, Untertanen des Fürstbischofs Clemens August
- 1.1 Der Jahrhundertwinter und das Hungerjahr 1740 in Haselünne
1.2 „Vagabunden- und Heidenjagden“ im Amt Meppen 1739 – 1743
1.3 Schickeria-Jagden auf Clemenswerth – Fürstbischof Clemens August auf Stippvisite in seinem Armenhaus Emsland (1744 – 1757)
1.4 Der Siebenjährige Krieg erreicht Haselünne (1757 – 1763)
- Henric Albert Ostermann und Anna Gesina geb. Wolters – Heuerleute in Lohe, Untertanen der Fürstbischöfe von Münster
2.1 Als Heuerleute nach Lohe (1768)
2.2 Hollandgängerei – Arbeiten bis zum Umfallen
2.3 Sohn Johann stirbt mit 17 – Über den Wert eines Menschenlebens in der agrarischen Klassengesellschaft
2.4 Buchweizen, Kartoffeln und Moorkolonisierung ab 1788
- Herman Henric Ostermann und Francisca geb. Blanke – Heuerleute auf der Kreyenborg, Untertanen des Herzogs von Arenberg und Kaiser Napoleons
3.1 Zeitenwende im Emsland: Das Jahr 1803
3.2 Die Franzosenzeit im Emsland aus Sicht der Heuerleute
3.3 Als Heuerleute auf die untergehende Kreyenborg (1808)
3.4 Die Armenjäger des Herzogs (1810)
3.5 Armut und Massenauswanderung aus dem Emsland ab 1820
- Johann Gerhard Henric Ostermann und Maria Adeleidis geb. Lampen – Heuerleute in Lehrte, Untertanen im Königreich Hannover
4.1 Kartoffelfäule und Hungersnöte (1846 – 1853)
4.2 Die Judenemanzipation im Emsland (1842)
- Gerhard Heinrich Ostermann und Maria geb. Lammers – Heuerleute in Vormeppen, Untertanen des Kaisers im Deutschen Reich
5.1 Reichsgründung und Kulturkampf im Emsland (1871 – 1878)
5.2 Als Heuerleute nach Vormeppen (1893)
5.3 Erster Weltkrieg 1914 und Ende der Monarchie 1918
30 . Januar
Dieser Teil wird nun zuerst eingestellt!
- Bernhard Heinrich Ostermann und Wilhelmine geb. Schulte – Bauern in der Stadtmark, Bürger der Bonner Republik
6.1 Krupp’scher Schießplatz in Vormeppen – und endlich eigenes Land!
6.2 Höfetausch 1955
200 Jahre Heuerlingsdasein – eine Bilanz