Lieber ein Kind verlieren als eine Kuh!

Zunächst einmal diente in der stark  agrarisch geprägten vorindustriellen Gesellschaft die Haltung von Vieh vornehmlich der Eigenversorgung.

Das war insbesondere bei den Heuerleuten mit ihren geringen landwirtschaftlichen Flächen so.

Und hier hatte die Kuh unter den Nutztieren eine Sonderstellung. Sie war der lebenswichtige Eiweißlieferant.

Früher hieß es unter Heuerleuten: Lieber ein Kind verlieren als eine Kuh!

In diesem Ausspruch spiegelt sich die besondere Bedeutung der Kuh für die Heuerlingsfamilie wieder: Ein Kind konnte nachgezeugt werden – so abstoßend sich das aus heutiger Zeit auch anhören mag – eine Kuh konnte unter normalen Umständen für eine Heuerlingsfamilie erst über mehrere Jahre wieder erarbeitet werden. Der Verzicht auf Milch und Butter traf die Familie schwer, denn bei dem ohnehin schmalen Nahrungsangebot aus der Eigenversorgung fehlte ein wichtiger Nahrungsbaustein.

So kann man nach genauerer Sichtung der Heuerlingsliteratur davon ausgehen, dass  im Durchschnitt auf das gesamte Verbreitungsgebiet etwa 1,5 Kühe gehalten wurden. Nach der Aufteilung der Markengründe verloren die Heuerleute ja nahezu ersatzlos wichtige Weidegründe, die sie nur geringfügig kompensieren konnten durch die Beweidung der Wegeränder. Dafür war zusätzlich nun noch einen Hütung nötig, die fast durchweg von den Kindern übernommen werden musste, die Arbeitskraft eines Erwachsenen wurde an anderen Stellen dringender gebraucht. Deswegen konnte nun in vielen Heuerlingsfamilien nur noch eine Kuh gehalten werden, was in mehrfacher Hinsicht zu deutlichen Einbußen führte.

Auch die Schafhaltung war von dieser Entwicklung betroffen. Während vor Einführung der Markenteilungen in den Gebieten mit starkem Heideanteil einige Schafe (4 – 8) der Heuerleute in der Herde des Bauern mitlaufen durften und von einem Schäfer bewacht wurden, fehlten nun auch diese Voraussetzungen für eine erfolgreiche und den Unterhalt der Familie sichernde Viehhaltung. Dieser Makel konnte dann nur durch eine geringe Aufstockung des Schweinebestandes aufgefangen werden, eben so weit, wie es der Feldfruchtanbau auf den vorhandenen Ackerflächen ermöglichte. In der Schweinefütterung konnten nämlich – im Gegensatz zur Rinder – und Kuhhaltung – erfolgreich  Kartoffeln eingesetzt werden. Kartoffeln brachten nicht nur von der Erntemenge gegenüber dem Roggen größere Erträge. Auch in der Futterverwertung waren sie damals dem Getreide deutlich überlegen. Allerdings konnten sie nur gekocht als Schweinefutter verwertet werden. Das gab dann aber den früher so überaus begehrten – und heute verschmähten – Speck. Allerdings lässt sich heute noch auf Zeichnung und Fotos nachweisen, dass die überkommenen Schweinerassen eine recht dürftige Schlachtausbeute abgaben. Als das Borstenvieh noch zur Eichelmast in die Wälder getrieben wurden, waren es nicht selten Wildschweineber, die dort auftauchten und die bescheidenen Hausschweinzüchtungen wieder durchkreuzten, also wieder verschlechterten. Etwa um 1860 und in einigen Gegenden noch viel später wurden dann Schweinezuchten eingeführt, die ein erheblich besseres Schlachtgewicht erwarten ließen.

Immer wieder wurde von ehemaligen Heuerleuten in den Gesprächen darauf hingewiesen,  dass man damals der Aufzucht und Fütterung der Schweine einen ganz besonderen Stellenwert beigemessen habe. So erzählte im Jahre 2010 eine damals 86jährige noch sehr rüstige Frau, dass ihre Mutter sehr stolz darauf gewesen sei, dass der Dorflehrer sein jährliches Schlachtschwein ausschließlich bei ihr kaufte, weil es jeweils einen überdurchschnittlich guten Eindruck sowohl vom Gewicht als auch vom Gesamteindruck her gemacht habe. Das habe sich die Hürmanske allerdings auch teuer erkauft: Sie habe das Lehrerschwein regelmäßig mit Milchresten gefüttert, was zu einem weichen, hellen, ja fast glänzendem Borstenfell   geführt habe. Das sei dann immer wieder auch Dorfgespräch gewesen, ganz zum Verdruss einiger Bauern…

Ohnehin waren die Heuerleute ja auf Gedeih und Verderb – häufig im wahrsten Sinne des Wortes – auf möglichst „große“ Erfolge im Stall angewiesen. So waren sie peinlich darauf bedacht, dass in einem neuen Wurf Ferkel auch wirklich alle jungen Schweine am Leben blieben. Das war gar nicht selbstverständlich. So kam es in den engen Ställen durchaus vor, dass eine Sau eines oder gleich mehrere Ferkel tot lag. Das passierte besonders in den ersten Tagen nach der Geburt dann, wenn sie sich unkontrolliert hinlegte. Dabei erdrückte sie dann Mitglieder ihres Wurfes. Deshalb wachte man in den ersten Nächten am Stall. Die Heuerleute waren ja durch ihre enge Behausung ganz nahe am Geschehen: Wenn ein Ferkel erbärmlich schrie, waren sie schon da und konnten so Schlimmeres verhindern. Bei den Bauern mussten Knechte und Mägde diesen Wachdienst übernehmen, den diese dann auch schon mal verschliefen…

Dass etliche Bauern schon sehr genau beobachteten, was sich im Stall „ihrer“ Heuerleute abspielte, zeigt folgende Geschichte, die ein älterer Viehhändler erzählte, der auch noch viele  Geschäfte  mit Heuerleuten machte.  Nachdem er nun bei der Heuerfamilie sechs gemästete Schweine gekauft hatte – damals schon eine recht stolze Zahl für einen kleinen Heuermann – ging er auch zum Bauern rüber, um auch dort nach möglichen Umsätzen Ausschau zu halten. Sofort fragte die Bauersfrau nach dem Handelsgeschäft auf der benachbarten Heuerstelle. Dort habe ich sechs gute Mastschweine gekauft, erzählte ihr der Viehhändler. Völlig empört rannte die Bäuerin zu ihrem Mann und beschwerte sich: Hermann, da haben doch unsere Heuerleute sechs dicke Schweine verkauft, alles von unserem Land!

Auch andere ältere Viehkaufleute und ein Milchkontrolleur berichteten darüber, dass es ein Konkurrenzdenken in der die Haltung und Züchtung von Vieh und ebenfalls in der Produktion von Milch insbesondere von Seiten der Heuerleute gab: Sie waren fast täglich auf den Hof ihres Bauern tätig. Sie konnten also gute Erfahrungen im Umgang mit dem Vieh kopieren, erkannte Fehler jedoch vermeiden und so häufig bessere Ergebnisse beim Verkauf von Nutzvieh erzielen. Solche Begebenheiten erzählten sich schnell im Dorf herum, machten die Heuerleute stolz und einige Bauern ärgerten sich.