Das ehemalige Haus eines Brinksitzer – von Dr. Maschmeyer

…und ein ehemaliger Brink in Untergersten?

Betrachtet man den ursprünglichen Bau, das kammerfachlose Flettdielenhaus von 5 Fach Länge, so kann es sich dabei eigentlich weder um ein ursprüngliches Heuerhaus (dafür wäre es ungewöhnlich alt) handeln, noch eine alte Leibzucht (dafür ist es entscheidend zu groß), noch um ein altes Vollbauernhaus (dafür ist es zu klein) handeln.

Für weitere Erkenntnisse ist es unvermeidlich, die historischen Verhältnisse und die topografische Lage im Dorf genauer zu betrachten. Zu den historischen Wurzeln des Heuerlingswesens ist wenig bekannt. Die Bauzeit der Heuerhäuser im allgemeinen ist keinesfalls als sicheres Indiz anzusehen, da man – wie etliche Beispiele belegen – davon ausgehen muss, dass ältere Gebäude mit ursprünglich anderen Eigentumsverhältnissen später zu Heuerhäusern umgenutzt wurden, wie es z.B. auch beim noch aus dem 15. Jh. stammenden Heuerhaus der „Wehlburg“ wohl der Fall ist. Dieser Hof war ursprünglich ein Erbkotten, d.h. er gehörte eigentlich zu bäuerlichen Unterschicht, hatte es aber zu Wohlstand gebracht, der ihm – allerdings unter Überdehnung der eigentlichen finanziellen Möglichkeiten – in der Mitte des 18, Jh., den Bau des neuen, riesigen Erbwohnhauses ermöglichte. Aus der Grafschaft Bentheim sind zwei fünffachige Flettdielenhäuser bekannt, die ursprünglich zu selbständigen kleinbäuerlichen Anwesen gehörten und später zu Heuerhäusern wurden. Von Anfang an als Heuerhäuser, d.h. von eingesessenen Bauern ausschließlich zum Zwecke der Vermietung (Verheuerung) errichtete Gebäude, lassen sich gesichert erst ab etwa der Mitte des 18. Jh. fassen. Die Zunahme des Baus von Heuerhäusern geht einher mit dem Verschwinden einer früheren Form der Neugründung von Häusern der agrarsozialen Unterschicht, den Brinksitzerstellen, die ab der Mitte des 18. Jh. in der Form, die gleich zu besprechen sein wird, nicht mehr zu beobachten ist. Damit ist die Vermutung angedeutet, dass es sich bei diesem Gebäude ebenfalls um ein ursprüngliches Brinksitzerhaus handeln könnte, das sekundär in ein Heuerhaus umgewandelt wurde.

Nach den bisherigen Erkenntnissen ist das Haus niemals umgesetzt worden, der Standort ist also noch der erste. Das Urkataster (ca. 1875) zeigt das Haus noch in der ursprünglichen Länge (Abbildung 12). Es liegt traufparallel zur Untergerstener Strasse. Direkt gegenüberliegt die ehemalige Hofstelle Linden, ein historisch gesichert ehemaliges Brinksitzerhaus,

 

 

Aufschlussreich ist auch die Betrachtung der Systematik der um 1830 erstmals fassbaren und bis 1973 beibehaltenen Hausnummern (Abbildung 15), die beim Vergleich mit dem in der sogenannten „Beschrivinge“ der Niedergrafschaft Lingen von 1555-1592 genannten Status der Höfe und Stellen am Ausgang des Mittelalters deutlich wird. Dabei ist man – von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen – in der Art vorgegangen, dass zunächst die alten, etablierten Vollerbenstellen von Süd nach Nord durchnumeriert wurden und dann erst – quasi auf dem Rückweg – die kleineren Katen und besonders Brinksitzerstellen erfasst hat.

Das führt in Untergersten dazu, dass die Numerierung dort mit der Nr. 14, dem alten Hof Wallage, endet, sich im etwa 1 km entfernten Ortsteil Drope fortsetzt, und dann mit der Nummer 41 wieder in Untergersten fortgesetzt wird (Abbildung 13). Alle Höfe in diesem Nummernbereich sind in der „Beschrivinge“ des 16. Jh. als Brinksitzer ausgewiesen, die nicht über Eigentum an ihrem Anwesen verfügten, vielmehr lag, wie aus der Quelle explizit hervorgeht ihr Haus – mit einer Ausnahme – „in der Mark“. Schon in der Beschrivinge sind aber auch mehrere Fälle in der Niedergrafschaft Lingen zu finden, in der eine „Wohnung in der Mark“ zu einer „Brinkwohnung“ hochgestuft wurde1. Was sich genau hinter dieser Statusänderung, die immerhin eine explizite Erwähnung im Abgabenregister wert war, im Detail verbarg, ist nicht bekannt. Sicher ist jedoch, dass es sich um eine Aufwertung des Eigentumsstatus gehandelt haben muss. Dieser Prozess scheint sich fortgesetzt zu haben, denn beim Vergleich mit einer erneuten Erfassung des Status der Anwesen anlässlich der Gründung des örtlichen Brandentschädigungsvereins 1882 (Abbildung 15) zeigt sich, dass diese Anwesen nunmehr als Viertelerben eingestuft wurden. Dabei dürfte es sich nicht nur um eine Änderung der Benennung handeln: Laut„Beschrivinge“ sagt lagen die Häuser der Brinksitzer in Untergersten ausnahmslos in der Mark. Unser Haus lag also mitten zwischen Brinksitzern und dürfte mit ziemlicher Sicherheit daher zum einen auch in der Mark gelegenund zweitens auch einem Brinksitzer gehört haben.

 

Bei der Aufnahme des Urkatasters (um 1875) hat sich die Lage grundlegend geändert. Jede Brinksitzerstelle bekommt dabei eigenes Hofgelände zugewiesen (Abbildung 13). Es dürfte wohl sicher sein, dass dies nicht erst anlässlich der Vermessung erfolgte, sondern das das Kataster den damaligen rechtlichen Stand wiederspiegelt. Irgendwann zwischen 1600 und dem frühen 19. Jh. muss das einstige Markenland in diesem Bereich – er sei hier durchaus als „Brink“ bezeichnet – aufgesiedelt worden sein. Der „Untergerstener Brink“ lässt sich unter diesen Annahmen gut rekonstruieren (Abbildung 14). Er muss eine Fläche von über 10 ha besessen haben. Bemerkenswert ist auch, dass es im Ortsteil Drope eine sehr ähnliche und vergleichbare Situation gibt. Unser Haus ist also eines der letzten Überbleibsel desUntergerstener Brinkes und seiner am Ausgang des Mittelalters erfolgten Bebauung. Für eine Entstehung der Brinksitzerstellen am Ende des Mittelalters sprich auch, dass in der „Beschrivinge“ sogar die Gründung einer solchen Stelle in Gersten für 1567 archivalisch belegt ist; leider lässt sie sich derzeit noch keiner der Stellen zuordnen.