“Einfach vornehm” – Eine Studie zu den landwirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnissen in den Küstenmarschen Ostfrieslands

Einfach vornehm

Die Hausleute der nordwestdeutschen Küstenmarsch in der Frühen Neuzeit

von  Jessica Cronshagen

in der Reihe
Veröffentlichungen der historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 276 erschienen
Göttingen 2014
In diesem Buch wird  auch der Unterschied der Lage der Landlosen in Nordwestdeutschland (Heuerlingsgebiet) und in den fruchtbaren Marschgebieten an der ostfriesischen Küste dargestellt.
Dr. Christof Spannhoff vom Institut für vergleichende Städtegeschichte in Münster rezensiert das Buch nachfolgend:

Wie bildete und etablierte sich eine bäuerliche Oberschicht in der Frühen Neuzeit? Dieser interessanten Frage geht Jessica Cronshagen in ihrer 2010 eingereichten Oldenburger Dissertation am Beispiel der friesischen Hausleute nach. Ihr Untersuchungsgebiet sind die friesischen Marschen zwischen niederländischer Grenze und Wesermündung, in denen sich vier historische Territorien verorten lassen: das Fürstentum Ostfriesland, die Herrschaft Jever, die Herrschaft Kniphausen sowie die Grafschaft bzw. das Herzogtum Oldenburg mit Butjadingen und der Wesermarsch. Den Schwerpunkt des Untersuchungszeitraums legt die Verfasserin auf das 17. und 18. Jahrhundert, in erster Linie nach Ende des Dreißigjährigen Krieges, eine Periode, die sie als ein „Zeitalter der sozialen Ausdifferenzierung“ und „lokaler Hierarchisierung“ (S. 11) ansieht.

Gerade in der sozialen Gruppe der friesischen Hausleute als „nicht-verfasste, aber nichtsdestotrotz stabile und sozial geschlossene lokale Elite“ (S. 11) sieht J. Cronshagen einen ertragreichen Untersuchungsgegenstand zur Erfassung der Entstehung, Entwicklung und Erhaltung frühneuzeitlicher lokaler Hierarchien, da in einem Gebiet nur schwach ausgeprägten Adels, die „Gestaltung der sozialen Ordnung des Dorfes weitgehend in bäuerlicher Hand“ (S. 11) lag. Zudem seien die nordwestdeutschen Bauern als „Repräsentanten einer von sehr eigenen Strukturen geprägten frühneuzeitlichen Agrarlandschaft“ (S. 19) von der Forschung recht stiefmütterlich behandelt worden.

Mit ihrer Arbeit stellt sich die Autorin somit in die Reihe neuerer Forschungen, die die ländliche Gesellschaft einer genaueren Differenzierung unterziehen und z.B. die Bauern auch als gestaltende Akteure in Wirtschaft, Politik und Kultur herausarbeiten. Damit schließt Cronshagen zum einen an die fruchtbaren Ergebnisse der Kommunalismusforschung, zum anderen aber auch an die neuen Perspektiven auf Herrschaft als Austausch- und Auseinandersetzungsprozess sowie hinsichtlich der bäuerlichen Distinktionspraktiken und Repräsentation zum dritten an die ländliche Konsumgeschichtsforschung an.

Um den ländlichen Elitebildungsprozess umfassend beschreiben zu können, bedient sich Cronshagen dem Bourdieuschen Konzept des symbolischen Kapitals bzw. der symbolischen Macht als institutionalisiertes Prestige. Somit werden vor allem „bewusste und strukturelle Formen der Distinktion sowie Reproduktionsstrategien, welche die Elitebildung in fester hierarchischer Ordnung bedingen“ (S. 23), betrachtet.

Dieses soziologische Konzept wendet die Autorin auf ihren historischen Untersuchungsgegenstand folgendermaßen an: Zunächst gibt sie einen kurzen Überblick über die territoriale Entwicklung und die politisch-kulturellen Zustände ihres Untersuchungsgebietes, um dann die Untersuchung der Wirtschaftskonjunkturen als Kontextualisierung der großbäuerlichen ökonomischen Kapitalakkumulation und sozialen Konsolidierung vorzunehmen. Es schließt sich die Darstellung der Gruppe der Hausleute in demographischer und bevölkerungsgeschichtlicher Hinsicht mit dem Schwerpunkt auf Heiratsverhalten und Vererbungsstrategien an. Im Kapitel „Die Hausleute und ihr Dorf“ wird die soziale und gesellschaftliche Stellung der Hausleute im Verhältnis zu den übrigen gesellschaftlichen Gruppen aus verschiedenen Perspektiven untersucht. Es folgt die wirtschaftsgeschichtliche Analyse, die die soziale Vorrangstellung auch als ökonomisch führende Position erklärt. Abschließend wird der Blick auf die aus der wirtschaftlichen Potenz resultierenden repräsentativen Verhaltensweisen gelenkt, die sich vor allem in der Kirche (Epitaphien, Grabsteine, Altargerät- und Leuchter-Stiftungen, Kirchenbank), in der Größe des Bauernhauses („Gulfhaus“), in der Einrichtung, im Besitz, aber auch im Konsumverhalten niederschlugen. Mittels dieser Selbstinszenierung als bäuerliche Elite manifestierten die Hausleute ihre gesellschaftliche Position im Dorf.

Als Quellengrundlage nutzt Cronshagen für ihre Untersuchung die gesamte Palette der frühneuzeitlichen Überlieferung zur ländlichen Geschichte: von Verwaltungsschriftgut (Schatzungsregister, Statistiken und kameralistische Unterlagen) über Dorfordnungen bzw. Bauerbriefe und Testamente, Ehestiftungen, Kreditbriefe, Kauf- und Pachtverträge sowie Familienchroniken bis hin zu Rechenbüchern, Inventaren und Reiseberichten.

Durch die akribische Auswertung gelingt es ihr, ein detailliertes Bild der Herausbildung und Konsolidierung der friesischen Hausleute zu zeichnen: Ihre Vorrangstellung gründete sich – objektiv gesehen – allein auf Basis ihrer Wirtschaftskraft. In ihrer Selbstsicht nahmen sie sich allerdings als „Stand“ alten Herkommens wahr, der sich durch die angeblich von Karl dem Großen gestiftete friesische Freiheit legitimierte (S. 33–35). Diese Etablierung und Festigung ihres Selbstbildes als eigener „Stand“, obwohl die Hausleute de facto und de jure keiner waren, gelang ihnen neben dem von ihnen tradierten Gründungsmythos auch dadurch, dass es in ständischer Hinsicht in Friesland nur wenig Konkurrenz durch einen gering ausgeprägten Adel gab. Die strukturelle Voraussetzung ihrer Selbstdarstellung als „Stand“ war ihre ökonomische Vorrangstellung, die sich aus der in der Region vorherrschenden Agrarverfassung mit der freien Verfügbarkeit über den Hof, der fehlenden feudalen Abhängigkeit und nur „schwache[n] herrschaftliche[n] […] Durchdringung der Marschen“ (S. 299), dem fast vollständig fehlenden Flurzwang in Kombination mit fruchtbaren Böden und hoher Marktintegration ergab. Diese Bedingungen führten zu einer wirtschaftlichen Unabhängigkeit und guten Anpassungsfähigkeit an Krisen- und Marktsituationen sowie agrarische Innovationen. Dass sich in der untersuchten Region ein Großbauerntum entwickeln konnte, führt Cronshagen demnach auch auf die Anfälligkeit der Marschenwirtschaft für Naturkatastrophen (Fluten) und konjunkturelle Schwankungen zurück. Nur wer ausreichende Rücklagen bilden konnte, überstand diese nachteiligen Einflüsse unbeschadet. Auch das schwache Bevölkerungswachstum an der südlichen Nordseeküste trug zur Elitebildung bei, da so die großbäuerlichen Strukturen erhalten werden konnten und nicht in Frage gestellt wurden.

Vor allem der freie Bodenmarkt und die geringe Bindung der Hausleute an ihren Hof (mehrere Höfewechsel eines Hausmanns waren keine Seltenheit; S. 214–218) ließen den Grund und Boden zu einer Ware werden und machten den „Stand“ der Hausleute, die den Bodenmarkt kontrollierten, flexibel. Aus dieser Dominanz des Bodenmarktes, gepaart mit der Kontrolle des ländlichen Kreditwesens, ergab sich die informelle „Herrschaft“ der Hausleute im Dorf.

Als Mittel zum Erhalt ihres „Standes“ diente den Hausleuten ein eingeschränkter Heiratskreis, der die bäuerliche Oberschicht gegenüber anderen Gruppen abschottete und ein elitäres, auf Verwandtschaft basierendes Netzwerk etablierte sowie das Anerbenrecht, mit dem der Zugang zum Bodenmarkt und der soziale Aufstieg kontrolliert und begrenzt werden konnte. Allerdings konnte Cronshagen feststellen, dass die ländliche Führungsschicht selbst keine einheitliche Gruppe bildete. Auch in der großbäuerlichen Elite gab es Abstufungen, die durch distinktives Verhalten austariert wurden, wenn auch diese Grenzen innerhalb der Hausleute nicht so deutlich hervortreten wie die Abgrenzungen zu anderen sozialen Schichten. Ein Distinktionsmerkmal der Hausleute war zudem ihre Bildung, die durch Hauslehrer auf den Höfen oder den Besuch höherer Schulen erreicht wurde. Die Eigen- und Fremdwahrnehmung des Status beeinflusste den Zugang zu Heiratskreisen, Bodenmärkten oder Krediten.

Insgesamt gelingt Jessica Cronshagen in ihrer agrar-, sozial-, wirtschafts- und mentalitätsgeschichtlichen Untersuchung eine sehr gute und detailreiche Darstellung der Hausleute der nordwestdeutschen Küstenmarsch, der Herausbildung ihrer sozialen Gruppe sowie ihrer Strategien zur Verfestigung und Sicherung der gesellschaftlichen Stellung auf Basis der zur Verfügung stehenden Quellen. Ein gewisses Manko der ansonsten hervorragenden Arbeit besteht allerdings darin, dass zuweilen die begriffliche Schärfe fehlt, was den analytischen Zugriff erschwert. So wird nicht recht deutlich, was genau Cronshagen eigentlich unter „Stand“ oder unter „Herrschaft“ versteht bzw. wie sie ihren Herrschaftsbegriff von „Macht“ oder „Sozialprestige“ abgrenzt. Trotz dieser Einschränkung bietet das eloquent geschriebene Buch aber eine sehr anregende und erkenntnisreiche Lektüre.

 

Kurvita des Rezensenten:

Dr. Christof Spannhoff studierte Geschichte und Germanistik an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und wurde 2013 promoviert (Thema „Leben ohne die Toten. Analyse der Konflikte um die Verlegungen der ländlichen Begräbnisplätze im 19. Jahrhundert im Kreis Tecklenburg”). Seit 2013 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für vergleichende Städtegeschichte an der Universität Münster in verschiedenen Projekten (Deutsche Königspfalzen, Reformation in
Westfalen, Historischer Atlas westfälischer Städte, Historischer Atlas des Kreises Warendorf). Spannhoff ist Gründungsmitglied der Forschungsgemeinschaft zur Geschichte des Nordmünsterlandes e.V. Seit 2016 ist er zudem ordentliches Mitglied der Volkskundlichen Kommission für Westfalen. Für seine “bürgernahe Heimat- und Geschichtsarbeit” wurde er 2019 mit dem LWL-Preis für westfälische Landeskunde ausgezeichnet.

Foto: Archiv Spannhoff

Landarbeitermarkt in Ostfriesland

In Teilen Ostfrieslands bestand eine deutliche größere Distanz zwischen den Bauern und den Landlosen