Dr. Meurer 1871: Industrieheuerling

Mit welchen anderen Mitteln kann die Lage der Heuerleute verbessert werden?

Die Industrie.

Aus:

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Meurer, Heinrich: Das Hollandsgehen in besonderer Rücksicht auf die Lage der Heuerleute im Osnabrückischen. Osnabrück 1871, Seite 72 - 79

Während der Heuermann, um sein Auskommen zu finden, in solcher Weise alle Vorteile der Ackerwirtschaft, namentlich auch die kleinen, ausbeuten soll, muss er zugleich darauf bedacht sein, die ihm dann noch etwa übrig bleibende freie Zeit durch irgend eine andere nutzbringende Tätigkeit, welche dem Landmanne nahe liegt, gut auszufüllen. Findet er keine Gelegenheit, um Tagelohn zu arbeiten, so muss er bestrebt sein, etwa durch Strohflechten, Holzschuhmachen, Gärtnerei, durch Nähen und Stricken der Frauen und Mädchen oder sonst wie seinen Gewinn zu suchen.

Die Strohflechterei ist ein gewinnreiches Gewerbe und darum empfehlenswert. Sie wird innerhalb der Provinz Hannover nur zu Twistringen im Großen betrieben; außerdem wird es in Bassum geübt u. Strohmatten werden in den Ämtern Leer und Wittmund und auf vielen Arbeits- und Heilanstalten der Provinz angefertigt. Nicht minder anzuempfehlen ist das Korbflechten insbesondere da, wo zur Anpflanzung von Weiden der geeignete Platz ist; desgleichen das Holzschuhmachen, welches schon jetzt einzeln damit beschäftigten Gemeinden bedeutende Summen Geldes zuführen soll. Gärtnereien sind meistens nur in der Nähe größerer Städte anzulegen, können hier aber auch sehr gewinnreich gemacht werden, wie allgemein die Erfahrung lehrt.

Wir möchten hier Gelegenheit nehmen, die Landbewohner aus der Umgegend von Osnabrück auf die Vorteile aufmerksam zu machen, welche ihnen der im Aufblühen begriffene Wochenmarkt in der Stadt Osnabrück bieten wir, wenn sie denselben richtig ausnutzen. Die Verhältnisse Osnabrücks gehen in dieser Beziehung einer vollständigen Umwandlung entgegen. Osnabrück hört mehr und mehr auf eine Ackerstadt zu sein. Wenn die Heuerleute mehr darauf Bedacht nehmen, werden sie aus ihrer Wirtschaft Manches entbehren und auf ihrem Acker manche Frucht ziehen können, die sie auf dem Markte gut verwerten. Aber es muss ein solches Geschäft in den einzelnen Ortschaften besser geordnet und namentlich die Vermittlung der Zwischenkäufer mehr und mehr umgangen werden.

Was endlich das Nähen und Stricken betrifft, so ist es gewiss richtig, wenn auf dem Lande in den Schulen ganz besonders darauf Rücksicht genommen wird, dass die Mädchen gut nähen und stricken lernen; denn was ist für einen ländlichen Haushalt unentbehrlicher, als dieses? Seitdem die Maschinen das Spinnen und Weben übernommen haben, ist den Frauen für Nähen und Stricken hinreichend Zeit geblieben, wiewohl auch diese Arbeit bereits mit Maschinen besorgt wird.

Am Schlusse dieser Auseinandersetzung darf nicht unerwähnt bleiben, dass aus mancher Heuerlingsfamilie der Vater oder ein Sohn ein Gewerbe treibt, z. B. als Schneider, Schuster, Zimmermann, Maurer u. dgl. und damit einen so guten täglichen Verdienst erzielt, dass für sie eine Ausdehnung der Landwirtschaft weder notwendig ist, noch als vorteilhaft zu empfehlen wäre.

Wie aber, wenn alle diese Erwerbsquellen fehlen? Wohin soll dann der Heuermann greifen?

Es erübrigt uns zum Schlusse noch die Beantwortung der Frage, in wieweit auch die Industrie als Mittel dienen soll, um die Lage der Heuerleute zu verbessern.

Bis vor kurzem beschränkten sich Industrie und Handel zumeist auf die Städte, wo, wie Herder sagt, „auf kleinem Raume nicht selten Alles zusammengedrängt ist, was Erfindung, Arbeitsamkeit, Gemeingeist und fortgesetztes Streben wecken und gestalten kann.“ Das ist anders geworden, seitdem durch die gänzlich veränderten sozialen und politischen Verhältnisse die Bedeutung der Städte sich wesentlich umgestaltet hat, und insbesondere seitdem durch eine ungeahnte Erleichterung des Verkehrs die Entfernungen fast aufgehört haben. Dadurch haben sich manche Industriezweige auch aufs Land gezogen, sobald sie daselbst sonst günstige Verhältnisse vorfanden. Es fragt sich demnach, ob der Verbreitung der Industrie auf dem Lande das Wort geredet werden soll, in der Absicht, um unseren Heuerleuten damit Arbeit und Verdienst zu verschaffen.

Es gibt manche, welche gegen das Fabrikwesen durchaus eingenommen sind wegen der mancherlei Nachteile, von denen es in der Regel begleitet wird. Auch wir sind keineswegs der Ansicht, dass seine Einführung in unsere Landgemeinden bedingungslos und künstlich zu empfehlen sei. Doch eben so wenig möchten wir sie ohne Weiteres zurückzuweisen wagen, vielmehr halten wir die Frage für wohlbegründet und der Erwägung wert, ob das Arbeiten in Fabriken nicht doch dem Hollandsgehen vorzuziehen sei. Wir unsererseits würden unbedenklich diese Frage verneinen, sobald es sich darum handelte, eine Gemeinde, die seither keine Fabriken hatte, mit großen Fabrikanlagen auszustatten, so dass eine Menge fremder Elemente in dieselbe eingeführt werden würde, wenn es sich darum handelte, in einer Gegend, welche seither vielleicht vom Ackerbau lebte, die Industrie so heimlich zu machen, dass sie unter gänzlicher Umgestaltung ihres Wesens fortan als Fabrikgegend gelten würde. Wir wissen aus Erfahrung, welche Folgen damit in der Regel verbunden sind und dass der Verdienst, welcher dadurch in die Gegend, in die Gemeinde gebracht wird, keineswegs als Gewinn anzusehen ist. Aber auch das wissen wir aus Erfahrung, dass eine einzelne industrielle Anlage solche Bedenken nicht zu erwecken braucht, während sie manchem Bedürftigen eine Wohltat werden kann. Überhaupt hängt da Alles von den Verhältnissen ab, namentlich von der Persönlichkeit des Unternehmers und dem Industriezweige selbst, um den es sich handelt, ob Männer, oder Frauen, oder ob beide gemeinschaftlich und vielleicht auch noch Kinder darin beschäftigt werden u. s. w. In dem Falle aber, dass es möglich gemacht werden könnte, in dieser Beziehung die erforderliche Sicherheit zu erlangen, würden wir die Industrie als Mittel, die materielle Lage der Heuerleute aufzubessern und dadurch das Hollandsgehen zu beseitigen, nicht allein nicht von der Hand weisen, sondern sogar mit Freude begrüßen.

Wir müssen hier zuerst wieder einen Industriezweig nennen, welcher früher in unserer Gegend so heimisch war, dass sein Einfluss sich über alle gewöhnlichen Lebensverhältnisse auf dem Lande verbreitete, wir meinen die Leinenbereitung. Da der Boden unserer Gegend sich für Flachsanbau besonders eignet, so waren Flachsbau und Leinenbereitung so allgemein, dass Knechte und Mägde sogar ihren Lohn daraus zogen. Westfälisches Leinen war nicht bloß über ganz Europa verbreitet, sondern fand seinen Weg selbst über das Meer und kam nach Amerika und in die holländischen Kolonien des asiatischen Archipels.

Seit dem Umsichgreifen der Maschinenspinn- und –weberei und der Verbreitung der billigen Baumwollwaren hat sich Deutschland – es kommt zunächst nur Norddeutschland in Betracht – eine Zeitlang von England überflügeln lassen, ist jedoch neuerdings mit demselben wieder in eine mächtige und erfolgreiche Konkurrenz getreten. Auch bei uns beginnt man großartige Spinnereien und Webereien anzulegen. Der nächste Vorteil davon für unsere ländliche Bevölkerung besteht in der bedeutenden Erhöhung der Flachspreise, so zwar, dass der Flachsbau, wie schon oben bemerkt wurde, sich neuerdings als sehr vorteilhaft herausstellt, sodann ist auch der Wert des Handgewebes seitdem bedeutend im Steigen, da ihm vor dem Maschinengewebe ein großer Vorzug eingeräumt wird.[1]) Leider hat man zu beklagen, dass durch Heranziehung einer großen Anzahl fremder Arbeiterinnen der Grund gelegt ist, dass auch bei uns so manche widerliche Erscheinungen, welche das Fabrikwesen oft im Gefolge hat, hervortreten werden. Wenn dagegen ein vermögender Mann mit sittlichen Grundsätzen, Kenntnissen und Unternehmungsgeist ausgestattet, sich an die Spitze eines ähnlichen Unternehmens stellen, darin nur Leute aus der nächsten Umgebung beschäftigen und für gehörige Beaufsichtigung sorgen wollte, so wüssten wir nicht, was dagegen einzuwenden wäre, wenn auch unsere Heuerleute einer solchen Erwerbsquelle vor dem Hollandsgehen den Vorzug gäben.

Dass sich aber außerdem noch andere Industriezweige finden ließen, welche bei uns eben so gut heimisch gemacht werden könnten wie anderswo, ist nicht zweifelhaft, da Lage, Verkehrsmittel, Handelsverbindungen, der Schutz, welcher vom Staate der Industrie gewährt wird, und sonstige Verhältnisse günstig sind. Wir sind zwar der Meinung, dass, wie die Verhältnisse eben jetzt noch liegen, unsere Heuerleute auch ohne Einführung neuer Industriezweige in die Lage versetzt werden können, des Verdienstes, den sie aus der Fremde holen, entbehren zu können, und dass wir, bis das anders wird, der Einrichtung von Fabriken auf dem Lande keinerlei Vorschub zu geben brauchen.

Sollten aber die Verhältnisse sich ändern, so scheint es unbedenklich, dass die Baumwollweberei neben der Leinenweberei möglich ist, dass unsere zahlreichen Gewässer zu industriellen Unternehmungen verwertet, dass bei dem Viehreichtum unserer nächsten Nachbarschaft Gerbereien lohnend werden, dass Uhrenfabrikation, Strohflechterei, Zigarrenfabrikation auch bei uns Tausende beschäftigen und ausreichend ernähren können, dass an geeigneten Stellen Ziegeleien, Kalkbrennereien angelegt, dass die gehörige Ausbeutung unserer reichen Torflager, sobald die gewünschten Verkehrswege geschaffen sind, vielen Arbeitern Brot und Unterhalt verschaffen werden. [2]) Es fragt sich nur, ob die moralische und physische Gefahr, welche damit in der Regel verbunden ist, im notwendigen Zusammenhange damit stehen, ob ihre Beseitigung, wie beim Hollandsgehen, teilweise unmöglich und ob diese Gefahr an sich größer oder geringer sei, als die des Hollandsgehens, deren Beseitigung eben den Gegenstand unserer Aufgabe ausmacht.

Wir entziehen uns Kürze halber der Beantwortung dieser allerdings wichtigen und interessanten Frage an dieser Stelle, weil unsere Aufgabe dieselbe eben nicht mit Notwendigkeit fordert. Es genügt uns, angedeutet zu haben, dass durch Förderung der Industrie Arbeit und Verdienst gegeben werden könne, so dass es nicht nötig wird, beides in der Fremde zu suchen. Wenn Fabriken zwar in der Regel die Brutstätten großer moralischer und physischer Übel, und Veranlassung zur Unsittlichkeit, zur Entkräftung und Verarmung sind, so kann gleichwohl solchen, mit den Fabriken an und für sich keineswegs zusammenhängenden Übeln durch vernünftige Einrichtung, Vorsicht und eine richtige Behandlung ganz gut entgegengewirkt werden.

Es kommt alles darauf an, eine gute Grundlage zu legen, die keine andere sein kann und darf, als die Religion und die von ihr verkündete Liebe. Auf dieser Grundlage würde, so meinen wir, auch die Industrie zu einem Baume emporwachsen, von dessen guten Früchten Viele erquickende Nahrung gewinnen könnten. Wir besitzen in verschiedenen Teilen unseres Landdrosteibezirks Fabriken, mit deren Resultaten man, wie ich höre, wohl zufrieden ist. Nach amtlichen Mitteilungen aus 1867 sind im Amte Neuenhaus zwei Maschinenspinnereien in Baumwolle mit 1640 Flachsspindeln, welche circa 35 Arbeiter beschäftigen. Außerdem sind im Amte Neuenhaus drei Fabriken in baumwollenen und halbbaumwollenen Zeugen mit 63 Handstühlen und 63 Arbeitern, im Amte Bentheim 7 Fabriken mit 199 Handstühlen und 146 Arbeitern. Gehende Webstühle in Baumwolle und Halbbaumwolle befinden sich im Lingeschen 33 mit 29 Arbeitern, im Bentheimschen 512 mit 375 Arbeitern; ferner in Leinen im Bentheimschen 36 Stühle mit 16 Arbeitern, im Lingeschen 28 Stühle mit 28 Arbeitern.

Es ist ersichtlich, wie vielen Personen in solcher Weise durch die Industrie die Mittel zum Leben zufließen. Ob auch hier bereits die gefürchteten bösen Begleiter sich gezeigt haben, wissen wir freilich nicht zu sagen, wohl aber, dass arme Arbeiter aus anderen Teilen des Bezirks nach ähnlichen Verdienstquellen seufzen.

 

„Prüfet alles und, was das Beste ist, das wählet!“

 

Nichts ist so sehr geeignet, den Menschen niederzudrücken, seinen Mut herabzustimmen und seine Tatkraft zu lähmen, als eine drückende Lage, worin er lebt, ohne durch die Hoffnung aufgerichtet und gestärkt zu werden, dieselbe je bessern zu können. Willst du einem solchen Menschen helfen, ihn aufrichten und stärken zum kräftigen Handeln, so musst du ihm deine aufrichtige Teilnahme beweisen, ihm die Möglichkeit der Rettung zeigen, seinen Mut beleben und ihn veranlassen, mit Entschiedenheit alle gebotenen Mittel in Anwendung zu bringen, alle seine Kräfte anzuspannen, um sich in eine bessere Lage zu versetzen.

Unser Heuermann wird es mit Dank anerkennen, wenn man sich aus Liebe ernstlich mit seiner Lage beschäftigt, er wird den ihm gezeigten Weg betreten, die gebotenen Mittel in Anwendung bringen und mit aller Tatkraft an die Verbesserung seiner Lage gehen. So wird denn auch das Hollandsgehen ein Ende nehmen. Die Möglichkeit liegt vor, allen denen, welche gegenwärtig aus unserer Gegend zur Arbeit in die Fremde ausziehen, daheim mit der Zeit Arbeit mit entsprechendem Lohne zu verschaffen, es kommt nur darauf an, die Sache richtig anzugreifen und zur Ausführung zu bringen. Wir wollen zum Schluss darüber unsere Gedanken und Ansichten mitteilen.

Zuerst ist es notwendig, dass das Übel richtig erkannt und gewürdigt werde; mit dieser Erkenntnis und Würdigung wäre der erste Schritt, diese Erkenntnis zu fördern, zur Prüfung des Gegenstandes in allen betreffenden Kreisen zu veranlassen und einen wenngleich schwachen Versuch zur Lösung der hier besprochenen wichtigen Frage zu machen. Die Erreichung des Ziels würde aber ohne Zweifel noch mehr gefördert werden, wenn unser Gegenstand in der Presse eine möglichst eingehende Besprechung fände und wenn sich namentlich die für das Volk bestimmten Schriften und Blätter, insbesondere auch die Volkskalender, die landwirtschaftlichen Blätter und ähnliche desselben bemächtigten. Sicher ist er wohl geeignet, eine besondere Aufmerksamkeit in Anspruch zu nehmen.

Zur Ausführung müssen dann zunächst die Grundbesitzer sich zu gemeinschaftlichem Wirken vereinen, nicht bloß, um sich über die Notwendigkeit, den Heuerleuten aufzuhelfen, und die dazu geeigneten Mittel zu besprechen, sondern auch, um sich einander zu den Opfern, welche gebracht werden, zu ermutigen, ganz insbesondere aber, um gemeinschaftliche zweckdienliche Maßnahmen festzustellen. Hierbei würden dann namentlich auch diejenigen Maßnahmen ins Auge zu fassen sein, welche speziell gegen das Hollandsgehen zu ergreifen sein werden. Unter anderen müssten nach meiner Meinung die Vereinsmitglieder durch die Statuten verpflichtet werden, nach einem gewissen fest zu bestimmenden Zeitraume keinen als Knecht anzunehmen, welcher daran festhält, im Sommer als Arbeiter in die Fremde ziehen zu wollen, desgleichen keinen neuen Heuermann, welcher sich nicht verpflichten will, auf das Hollandsgehen Verzicht zu leisten; ferner müssen die Vereinsmitglieder geneigt sein, ihren Heuerleuten solche Pachtbedingungen zu stellen, dass dieselben mit der Zeit in die Lage kommen, des Verdienstes, welchen sie in der Fremde suchen, entbehren zu können, und es möchte ratsam sein, auch diese Bedingungen in allgemeinen Umrissen durch die Statuten festzustellen. [3])

Ein „Verein zur Verbesserung der Lage der Heuerleute und zur Beseitigung des Hollandsgehens“ würde aber unserer Meinung nach zugleich gegen die durch das Hollandsgehen geförderten Ausschweifungen, gegen nächtliche Tänzereien, Trinkgelage und das Umherschwärmen der Dienstboten und Bauernsöhne zu wirken haben. Ist es zunächst freilich die Aufgabe der Seelsorger, nach dieser Richtung hin tätig zu sein, und der weltlichen Beamten, sie ihrerseits darin zu unterstützen, können und sollen erstere mit geistlichen Mitteln auf die Erkenntnis und den Willen einwirken, letztere Gesetze und Verordnungen anwenden, um die Ordnung aufrecht zu erhalten; können beide so in vieler Beziehung die Zwecke des Vereins fördern, so ist es doch vor allem wichtig, dass die Grundbesitzer für sich selbst die Sache in die Hand nehmen und nach gemeinsamen Grundsätzen im Geiste der Moral, im Geiste der christlichen Liebe vorangehen, Hand in Hand mit der geistlichen und weltlichen Behörde.

(…)

 

Zum Schluss noch dieses:

Zwei Götzen ganz besonders sind es, vor welchen in unseren Tagen die Welt auf den Knien liegt, sie heißen Luxus und Genusssucht. „Lebe, um zu genießen!“ – „Genieße, so lange du kannst“ – „Nur Genuss ist Leben“ – das sind die wesentlichen Lebensgrundsätze unserer modernen Weltweisen, welche mit ihren Wünschen und Hoffnungen auf der Erde bleiben und darüber nicht hinausdenken.

Es ist erstaunlich, wie viele Menschen sich zu der Religion bekennen, deren höchster Grundsatz der Genuss ist, wie sinnreich und erfinderisch der Geist des Menschen, um seine Götzen zu befriedigen. Sind es zwar zunächst die großen, volkreichen Städte, in welchen diesen Götzen Tempel und Altäre errichtet werden, und sind es zunächst freilich die Begüterten, welche in großer Menge nach diesen Tempeln drängen, um ihren Götzen zu opfern, so tritt doch mit jedem Tage deutlicher hervor, wie verderblich das Beispiel der höheren Kreise nach untern hin wirkt. Das Streben nach Genuss wird immer allgemeiner, der Luxus geht über alle Grenzen hinaus. Unglauben, Irreligiosität und Sittenlosigkeit, Lasterhaftigkeit, Rohheit und Schamlosigkeit einerseits, andererseits Verarmung, die eine immer größere Ausdehnung gewinnt, und Verzweiflung, die schließlich die verbrecherische Hand an das eigene Leben legt, das sind die traurigen Folgen, die bereits wahrnehmbar sind.

Das brave Landvolk hat lange widerstanden. Treu dem Glauben und den von den Vorfahren ererbten Gewohnheiten, blieb es einfach in seiner Gesinnung, seinen Sitten und seinem Streben und hielt sich fern von den Bedürfnissen und dem Treiben der großen Welt. Man darf sich aber nicht verhehlen, dass das anders geworden ist, dass in Haltung, Kleidung und der ganzen Lebensweise allmählich ein anderer Geist sich offenbart. Wohl ist es wünschenswert, dass das Gute, welches die neuere Zeit geboren hat, auch von dem Landvolke erkannt und angenommen werde, aber es hüte sich vor der Leichtfertigkeit, dem Flitterkram und der Genusssucht, welche sich mächtig auch bei ihm eindrängen wollen, und leider immer mehr Boden gewinnen! Es ließen sich dafür mancherlei Tatsachen als Beweise anführen, die einzige Tatsache aber genügt, dass es heutzutage nur zu viele Dienstboten gibt, deren Koffer leer bleibt, während ihr Lohn Jahr für Jahr durch Putzkram und in Vergnügungen vergeudet wird. Ein sorgfältiger Blick in die Wirtshäuser an den Sonntagen und namentlich bei den Kirchmessen kann für vieles die richtige Erklärung vermitteln. In der Tat kann man nur mit ängstlicher Besorgnis in die Zukunft sehen, wenn Luxus und Genusssucht auch auf dem Lande in seitheriger Weise fortschreiten und die alte Einfachheit, Deftigkeit, Anspruchslosigkeit, gar auch Sparsamkeit, Reinheit, Sittlichkeit, Bravheit, Religiosität, alle die schönen Tugenden, wie sie noch dem Kerne unseres Bauernstandes eigen sind, allmählich hinwegnehmen. Wenn man berechtigt ist, den maßlosen Luxus und die unbegrenzte Genusssucht als die Hauptursachen des immer mehr um sich greifenden Unglaubens, der grenzenlosen Gottlosigkeit, der unmenschlichen Rohheit, der zahllosen Verbrechen gegen die Sittlichkeit, gegen fremdes Eigentum und Leben, der sich stets mehrenden Selbstmorde, des furchtbar drohend auftretenden Pauperismus anzusehen, dann ist gewiss aller Grund vorhanden, deren Fortschreiten auf dem Lande mit großer Besorgnis zu beobachten.

Liegt aber in der Gefahr, welche durch Luxus und Genusssucht drohen, Grund genug, gegen dieselben anzukämpfen und sie fern zu halten, so müssen das namentlich unsere Heuerleute tun, denn die Befriedigung beider kostet außerdem viel Geld, während unsere Heuerleute sich eben durch Sparsamkeit und Einfachheit in allen Lebensbedürfnissen die Möglichkeit verschaffen müssen, auch ohne Hollandsgehen ihre Bedürfnisse zu bestreiten. Schon die kleinen Genüsse, welche, obgleich unnötig, die meisten sich gestatten, als Rauchen, Bier und Branntwein und dergleichen kosten viel Geld, wenn sie zu regelmäßigen Bedürfnissen werden. Es ist sicher wohl angebracht, auch an dieser Stelle gegen das Branntweintrinken und den regelmäßigen oder zu häufigen Besuch der Wirtshäuser aufzutreten. Das Geld, welches hier vergeudet wird, kann zu weit edleren und weniger gefährlichen Genüssen verwendet werden, wenn man es nicht für wirkliche Bedürfnisse nötig hat. Es wäre sehr zu wünschen, wenn der Landmann in Vielem wieder zu seiner alten Gewohnheit, zu seiner früheren Einfachheit in Kleidung, Nahrung und Lebensweise zurückkehrte.

Eines aber darf er sich unter keinen Umständen rauben lassen, es ist die Treue seines Glaubens, welche seinem ganzen Leben das Siegel aufdrückt. Dieser Glaube gibt auch dem Arbeiter in Armut und Entbehrung, im harten Kampfe um die Bedürfnisse des Lebens Mut und Kraft, Trost und Hilfe. Er kennt das Wort der Schrift und vertraut darauf; wenn es heißt: „Der da pflanzet und der da begießet, sind Eins, ein jeder aber wird seinen Lohn gemäß seiner Arbeit empfangen;“ er betet: „Vater unser, der du bist im Himmel“ und glaubt und weiß, dass der „Vater im Himmel“ auch seine Schicksale zu seinem Besten lenkt; er hört die Mahnung: „Suchet zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit, das Übrige wird euch zugegeben werden“ und glaubt und lenket damit seinen Blick über das Irdische hinaus und findet damit Stärke und Zufriedenheit.

Wie bei allen sozialen Fragen wird der letzte Grund der Lösung auch unserer Frage aus der Tiefe der Religion zu nehmen sein. Nachdem alle vernünftigen Mittel zur Besserung der Lage der Heuerleute mit Fleiß und Umsicht angewendet sind, muss der Blick auf Gott gelenkt werden, welcher Keinen zu Schanden werden lässt, der in Geduld und Erhebung mit Vertrauen ausharrt, und auf das ewige Ziel, welches Jeder durch Treue in dem ihm angewiesenen Berufe zu erreichen streben muss. „Prüfet Alles, und, was das Beste ist, das behaltet!“

Anmerkung:

Der Verfasser Dr. Heinrich Meurer war von 1860 bis 1861 Pfarradministrator in der Pfarrei St. Vitus in Meppen-Altstadt.

Erzbischof Dr. Paulus Melchers war von 1858 bis 1866 Bischof von Osnabrück, danach wurde er zum Erzbischof von Köln berufen.

Sein Nachfolger wurde am 5. April 1866 Dr. Johannes Heinrich Beckmann, ein Weggefährte Dr. Heinrich Meurers.

Meurer war ab 1866 Domherr am Osnabrücker Dom. Er hat kurz nach dem Tode von Bischof Dr. Beckmann am 30. Juli 1878 eine zeitgenössische Lebensbeschreibung seines Weggefährten und Bischofs verfasst:

Meurer, Heinrich: Johannes Heinrich Beckmann, Bischof von Osnabrück. Osnabrück 1878.

Der im Text zitierte Adolf Kerle war von 1869 bis 1903 Pastor von St. Pankratius in Hilter-Borgloh.

Der zitierte Georg Behnes war von 1868 bis 1880 Pfarradministrator von St. Antonius in Messingen.[4]

[1] Nach den Mitteilungen über den Leggenverkehr im Fürstentum Osnabrück ist nicht bloß die Produktion selbst wieder sehr im Steigen, sondern auch der Preis, welcher dafür gezahlt wird. Es ist das durch Zahlen nachzuweisen. Der durch E. C. Boye in unserer Gegend verbreiteten s. g. belgischen Methode des Flachsbaues wird von erfahrenen Landwirten ein großer Vorzug eingeräumt; der Flachs soll besser und der Ertrag größer sein. Dahingegen kann das Flachsspinnen und Weben nach den Erträgen, welche möglich sind, nicht mehr als lohnender Erwerbszweig empfohlen werden.

[2] Es wird bedauert, dass die auf einer Strecke der Westbahn versuchte Heizung der Lokomotiven mit Torf wieder aufgegeben worden ist.

[3] Hr. P. Kerle teilt den Pachtkontrakt, welchen ein Grundbesitzer der Gemeinde Ankum in einer Versammlung des landwirtschaftlichen Vereins daselbst vorgelegt hat, mit dem Bemerken mit, dass die Heuerleute dieses Grundbesitzers, mit denen ein ähnlicher Kontrakt geschlossen war, seit 15 Jahren schon nicht mehr ins Ausland auf Arbeit ziehen, und sämtlich solide, fleißig und verhältnismäßig wohlhabend sind. Der Colon verpachtet hiernach dem Heuermann auf 8 Jahre Haus und Garten zu 15 Rthlr. Pr. Jahr, dazu 10 Morgen d. i. 30 Scheffelsaat Ackerland zu 4 Rthlr. pr. Morgen; dagegen verpflichtet sich der Heuermann zu jährlich 100 Tagen Haushilfe gegen einen Tagelohn von 10 gr. Pr. Tag.

[4] Stieglitz, Hermann: Handbuch des Bistums Osnabrück 1991, 2. Völlig neubearbeitete Auflage 1991, herausgegeben vom Bischöflichen Generalvikariat Osnabrück.