Ein Gedicht von A. von Chamisso

Dieses Gedicht aus dem Jahre 1836 von Adalbert von Chamisso könnte auch Die alte Heuerlingsfrau überschrieben sein.

Die alte Waschfrau

Du siehst geschäftig bei dem Linnen
Die Alte dort in weißem Haar,
Die rüstigste der Wäscherinnen
Im sechsundsiebenzigsten Jahr.
So hat sie stets mit sauerm Schweiß
Ihr Brot in Ehr’ und Zucht gegessen,
Und ausgefüllt mit treuem Fleiß
Den Kreis, den Gott ihr zugemessen.

Sie hat in ihren jungen Tagen
Geliebt, gehofft und sich vermählt;
Sie hat des Weibes Loos getragen,
Die Sorgen haben nicht gefehlt;
Sie hat den kranken Mann gepflegt;
Sie hat drei Kinder ihm geboren;
Sie hat ihn in das Grab gelegt,
Und Glaub’ und Hoffnung nicht verloren.

Da galt’s die Kinder zu ernähren;
Sie griff es an mit heiterm Muth,
Sie zog sie auf in Zucht und Ehren,
Der Fleiß, die Ordnung sind ihr Gut.
Zu suchen ihren Unterhalt
Entließ sie segnend ihre Lieben,
So stand sie nun allein und alt,
Ihr war ihr heit’rer Muth geblieben.

Sie hat gespart und hat gesonnen
Und Flachs gekauft und Nachts gewacht,
Den Flachs zu feinem Garn gesponnen
Das Garn dem Weber hingebracht;
Der hat’s gewebt zu Leinewand;
Die Scheere brauchte sie, die Nadel,
Und nähte sich mit eig’ner Hand
Ihr Sterbehemde sonder Tadel.adelbert_von_chamisso

Ihr Hemd, ihr Sterbehemd, sie schätzt es,
Verwahrt’s im Schrein am Ehrenplatz;
Es ist ihr Erstes und ihr Letztes,
Ihr Kleinod, ihr ersparter Schatz.
Sie legt es an, des Herren Wort
Am Sonntag früh sich einzuprägen,
Dann legt sie’s wohlgefällig fort,
Bis sie darin zur Ruh’ sie legen.

Und ich, an meinem Abend, wollte,
Ich hätte, diesem Weibe gleich,
Erfüllt, was ich erfüllen sollte
In meinen Grenzen und Bereich;
Ich wollt’, ich hätte so gewußt
Am Kelch des Lebens mich zu laben,
Und könnt’ am Ende gleiche Lust
An meinem Sterbehemde haben.

Foto: Wikimedia commons

aus: http://www.gedichte.eu/kl/chamisso/gedichte/die-alte-waschfrau.php am 22. 09. 2016