Ein Ravensberger Bauernhof 1945 -1990

Betrachtungen eines Landwirts zum Strukturwandel in der Landwirtschaft

von Jobst B r ü n g e r, Herford-Eickum

Der Besitzer eines Bauernhofes im Ravensberger Hügelland hat sich Gedanken über den Strukturwandel in seinem Berufsstand innerhalb von zwei Generationen gemacht. Er versucht aus seiner Sicht verständlich zu machen, welche Ursachen und Kräfte für die Veränderungen bestimmend waren.

Der Hof, dessen Umwandlung von einem Vollerwerbs in einen Nebenerwerbsbetrieb beschrieben werden soll, ist ein für das Ravensberger Land typischer Besitz. Er ist 35 ha groß und spannte früher fünf Pferde an. Es wurden 12 Kühe gemolken, die Schweine hatten ihr eigenes Gebäude. Zum Hof gehörte natürliches Grünland. Die Böden eigneten sich für den Anbau von Zuckerrüben. Zum Hof gehörten drei Kotten (gemeint sind hier Heuerhäuser), und er hat eine marktnahe Lage zwischen den Städten Herford und Bielefeld. Die Weitergabe des Besitzes von einer Generation zur anderen war u.a. durch die Höfeordnung geregelt und auch immer so gehandhabt worden

Angedeutet haben sich diese Veränderungen schon vor und nach dem Ersten Weltkrieg. Deutlicher wurden die Anzeichen des Wandels zwischen den Weltkriegen; der Wandel wurde ausschließlich durch den Einsatz von noch mehr Arbeitskräften bewältigt.

Es standen meinem Vater die Eleven, Knechte und Melker und die Heuerleute mit ihren Familienangehörigen zur Verfügung. Bis zum Zweiten Weltkrieg bestand über Generationen hinweg ein bewährtes, ausgewogenes Arbeitskräftegefüge. Das war patriarchalisch geprägt und gegliedert in Hofbesitzer, Kötter gleich Heuerlinge und Knechte. Dazu kam die Bäuerin, kamen die Heuerlingsfrauen und die Mägde. Zwischen dem Bauern und dem Heuerling bestand in der Regel ein von gegenseitiger Verantwortung getragenes Verhältnis. Sie hatten schon als Kinder miteinander gespielt, jetzt arbeiteten sie zusammen. Der älteste Heuermann übernahm im Krankheits- oder Todesfall die Bewirtschaftung. Er hatte das Vertrauen. Er hatte auch die Kenntnisse. Umgekehrt wussten der Bauer und die Bäuerin um ihre Verantwortung gegenüber der Familie des Heuerlings. Die Arbeitsgemeinschaft, die zum Teil den Charakter einer Lebensgemeinschaft hatte, war intakt. Wirksam wurde der Zwang zu neuen Wirtschaftsformen erst in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg.

Mein Vater musste, wenn Getreide auf dem Balken über der Deele gelagert werden sollte, mindestens zwölf Leute zusammentrommeln. Wenn eine Person dann ausfiel, stockte das Einfahren “mit stehendem Wagen”, einer Vorform des Fließbandes.

Die Landwirtschaft steckte also in den 50er und 60er Jahren in einer Mechanisierungsphase. Ohne den Einsatz von Maschinen ging es nicht mehr. Die Arbeitsabläufe änderten sich. Aber im Denken der Bauern waren noch altbewährte Grundsätze fest verankert. Die in Frage zu stellen, traute sich noch niemand: Viehzucht und Ackerbau sind untrennbar. Sie ergänzen sich zu einem gesunden Ganzen. Alle Flächen werden in den Anbauplan einbezogen. Der Stallmist hält die Böden gesund. Alle Glieder der Fruchtfolge sind aufeinander abgestimmt.

Wollte der Landwirt diesem Prinzip treu bleiben, musste er wegen des Arbeitskräftemangels alle Maschinen kaufen. Das über Generationen hinweg bewährte Heuerlingsverhältnis erwies sich als nicht mehr zeitgemäß.

Nach dem Krieg vollzog sich ja nicht nur der offen zutage tretende Wandel von der Agrar- zur Industriegesellschaft. In engem Zusammenhang damit maß ein verändertes Sozialverständnis der Arbeitskraft einen anderen Stellenwert bei.

Die Entwicklung hat zwar auch Jahre gedauert; aber als Resultat dieses anderen Denkens war eine Arbeitskraft nicht mehr Arbeiter, Angestellter, Heuerling oder Knecht, sondern der Mitarbeiter.

Und ich erlaube mir mit aller Vorsicht die Frage, ob nicht gerade auf den Höfen die Menschen weiterhin „behandelt” wurden und deshalb, so schnell sie konnten, abwanderten.

Es ist wichtig, diesen Gedanken als Feststellung und nicht als Vorwurf anzusehen. Es wäre zu einfach und nicht begründet, gerade vom Berufsstand des Bauern zu erwarten, dass er die Zeichen der Zeit sofort begriffen und angemessen reagiert hätte.

Und: Ich erinnere mich noch sehr genau daran, dass damals, aus welchen Motiven heraus auch immer, dem Bauern und den noch mit ihm arbeitenden Menschen allzu oft offener und versteckter Hass entgegenschlug.

Eine andere Überlegung zu den Heuerleuten: Sie zogen aus dem Kotten aus, aber der Kotten gehörte noch zum Hof. Die Heuerlingsfamilie nahm an der Wohnungsbauwelle teil. Die Kotten übernahmen eine Sozialfunktion. In den nicht mehr zeitgemäß ausgestatteten Heuerlingshäusern fanden die Familien einen Unterschlupf, die entweder kinderreich oder nicht intakt waren oder beide Merkmale aufwiesen. Das wird sich im Laufe der Jahre wieder ändern.

Ganz wesentlich war die Überlegung, dass der vereinfachte Arbeitsalltag, die Beschränkung auf Ackerbau, mir die Möglichkeit bot, nebenbei zu arbeiten. Der Betrieb war nach der Umstellung kein Vollerwerbsbetrieb mehr, sondern ein Nebenerwerbsbetrieb. Ich selbst musste aber eine Vollarbeitskraft bleiben, mich also einer außerlandwirtschaftlichen Tätigkeit zuwenden. Meine Frau ist mir später gefolgt. Der Alltag war mit einem Doppelberuf ausgefüllt. Mir ist erst  „beim Lehrgeld¬bezahlen” bewußt geworden, wie wichtig jetzt Ordnung, Organisation und Konzentration als Maxime wurden.

Wie stellte sich die Landwirtschaft zu diesem Zeitpunkt im Landschaftsgefüge dar?

Die Früchte auf den Feldern wiesen auf intensive Bewirtschaftung hin, sie machten einen “tadellosen” Eindruck, versprachen von Jahr zu Jahr steigende Erträge. Weidende Kühe, suhlende Schweine und scharrende Hühner waren verschwunden. Reiter belebten das Bild. Maschinen ratterten über die Äcker. Die Landwirte fuhren aneinander vorbei.

Der Zustand der Gebäude gab dem Betrachter alter Höfe einen Hinweis darauf, ob der Besitzer die finanziellen Mittel zur Erhaltung hatte und den Einsatz für richtig hielt. Umbauten, die die veränderte Wirtschaftsform mit sich brachten, fielen jedem Besucher auf. Hin und wieder störten Verschandelungen den Gesamteindruck. Die Deele, früher der zentrale Raum mit mannigfaltigen Funktionen, war leer, wirkte kalt oder war zugebaut. Das Innere der altehrwürdigen Wirtschaftshäuser erlebte ein Gast oft als fremdartig und abweisend.

Auch die Nutzung der Heuerhäuser war im Wandel begriffen. Waren sie wegen ihrer Baufälligkeit aus dem Siedlungsgefüge nicht verschwunden, so wurden sie jetzt von Mietern bevorzugt, die bereit waren, naturnahes Wohnen teuer zu bezahlen. Sie kauften die Kotten oder übernahmen die notwendigen Umbauarbeiten, gestalteten Haus und Garten nach ihren Vorstellungen. Es gab freilich Beispiele dafür, dass das Ergebnis dieser Umbauten das Auge des Betrachters störte.

Die Landwirtschaft geriet von einer Krise in die nächste, weil sie abhängiger wurde. (…)

Die Veränderungen in der Landwirtschaft sind keineswegs so glatt abgelaufen, wie ich sie dargestellt habe. Um leichter verstanden zu werden, habe ich mich in jeder Weise beschränkt. Selbstverständlich waren alle Bereiche der Landwirtschaft einem ständigen Wandel, dem Zwang zur Anpassung und dem Versuch zu Verbesserungen unterworfen.

Dieser Beitrag wurde 2013 aus dem Internet geladen. Mittlerweile ist er dort offensichtlich gelöscht.