Die Großmutter
Wenn die Statistik nur die Zahl der Familienmitglieder angibt, ist zu bedenken, daß oft die Großeltern mitgezählt sind, oder, was häufiger zutrifft , die Großmutter. Sie findet heute in der städtischen Mietwohnung selten Platz bei der Familie, auf dem großen Hof keine rechte Beschäftigung , aber im Häuslings haus. bleibt sie in Tätigkeit, ist sie geradezu unabkömmlich, häufig die Seele und der Mittelpunkt des Hauses . Wenn der Mann auf den Acker geht und die Frau ihm hilft oder eine Lohnarbeit angenommen hat, wenn die Kinder in die Schule oder zur Lehrstelle fahren, dann verlöscht dennoch den ganzen Tag das Herdfeuer nicht, in der Küche wirkt die Oma und sorgt für die zu unterschiedlichen Zeiten Heimkehrenden. Anderswo betreut die Großmutter jahrein jahraus die Schweine und das Federvieh und kümmert sich um die Kinderkleidung; Herrscht aber an Erntetagen Großeinsatz auf dem Feld , so ist sie auch dabei, zumindest stundenweise.
Eine Einladung an die Eltern gilt niemals zugleich für die Großmutter . Sie bewacht Kinder, Vieh und Haus.
Und kommt viel Besuch, dann trägt sie in der Küche die Hauptlast. Sie zeigt sich in vorgerückter Stunde wohl noch den Gästen, zum Umfallen müde, aber heiter, sogar fröhlich im Wort und Gebärde – ein Abglanz aus jener Zeit, die so schwer arbeitende und doch durchweg fröhliche Menschen sah? Dann zieht die Alte sich zurück, denn am nächsten Morgen muß schließlich einer frisch sein, damit die Kinder rechtzeitig in die Schule kommen. Falls ein lautes Treiben mit Musik und Tanz bis in den Morgen geplant ist, werden die Kinder wohl zu Verwandten ausquartiert, und die Großmutter geht als Betreuerin mit.
Gelegentlich laden die alten Frauen einander ein, aber nur für eine Nachmittagsstunde, zu einer kurzen Unterbrechung ihres stillen, unermüdlichen Dienens. So gern sie über vergangene Zeiten sprechen, so selten klagen sie über die rastlose und seelenlose Gegenwart. Ihr Arbeitstag hat innerhalb der Familie noch den am stärksten traditionell bestimmten Rhythmus, sie haben sich ihr Gemüt bewahrt. Eine Großmutter setzt sich noch heute an das Bett der kranken Enkelin und liest ihr Märchen vor.
aus Das Häuslingswesen und sein Ende im Kreis Grafschaft Hoya unter besonderer Berücksichtigung des Dorfes Jardinghausen Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Fakultät für Geistes und Staatswissenschaften der Technischen Universität Hannover vorgelegt von Ulrich Riedell, geboren am 24. 0ktober 1915 in Hammeleff, Kr. Hadersleben Diese Arbeit liegt maschinenschriftlich vor.