Entstehungsgeschichte

Kann man das glauben?

Einen Meter Bücher findet man über den Adel in Nordwestdeutschland – hier in der Stadtbibliothek Bielefeld – , der nicht einmal mit einem Prozent an der dortigen Bevölkerung beteiligt ist.

Dagegen stellten die Heuerleute in den Dörfern und Bauerschaften fast durchweg mehr als die Hälfte der Bevölkerung bis etwa 1960.

Über diese Bevölkerungsgruppe gibt es kein zusammenhängendes Buch:

– 1946 schrieb Jürgen Seraphim eine Dissertation über das Thema.

Diese Arbeit erschien aber nicht als  Buch.

– Lediglich ein “Büchlein” in Maschinenschrift wurde von Prof. Dr.Sauermann über den Heuermann Rudolf Dunkmann erstellt.

(Genaueres im Literaturverzeichnis)

Dieses gedruckte Exemplar stammt aus einer zahlenmäßig kleine Edition, die vornehmlich für Archive und wissenschaftliche Einrichtungen gedruckt wurde.

Ich erhielt dieses Exemplar als Geschenk von meinem Schulfreund Dr. Bernd Schulte im Vorfeld der Buchveröffentlichung.

 

Die Entstehung dieses Buches – ein Gemeinschaftswerk

von Bernd Robben

 

1948 erblickte ich als ältester Sohn auf einem mittelgroßen Bauernhof in der kleinen Bauerschaft Gleesen im südlichen Emsland das Licht der Welt. Noch bis 1959 lebten im Heuerhaus nebenan „unsere“ Heuerleute. Nach meinem Lehrerstudium wollte ich auf das Hoferbe, das mir nach dem Ältestenrecht eigentlich zugefallen wäre, verzichten. Da aber auch meine beiden jüngeren Brüder sich beruflich anderweitig orientierten, übernahmen meine Frau und ich ab 1975 den Hof von meinen Eltern und zogen in das renovierte Heuerhaus direkt neben dem Bauernhaus ein. Das hat damals bei etlichen Landwirten in der Umgebung Erstaunen und auch Kritik hervorgerufen. Man war sich einig: Ein Bauer wohnt nicht in einem Heuerhaus.Wir verpachteten den Hof dann weitgehend, weil ich zeitgleich im benachbarten Kirchdorf Bramsche bei Lingen die Leitung der Grundschule übernahm.

Und genau in dieser Zeit kam auch der entscheidende Hinweis und Impuls für meine spätere zunehmende Beschäftigung mit dem Thema „Heuerlingswesen“.

Aus Bramsche stammte der damalige Ministerialdirigent Dr. Franz Möller, der zunächst als noch recht junger Jurist persönlicher Referent des seinerzeitigen Bundestagspräsidenten Dr. Eugen Gerstenmaier war. Danach übernahm er die Leitung der Bundestagsverwaltung. In dieser Eigenschaft baute er eine eigene Bücherei des Bundestages auf. Später wurde er Landrat im Rhein-Sieg-Kreis und Mitglied des Bundestags.

Mehrfach im Jahr besuchte er sein Elternhaus und vertrat dann seinen Bruder Theo hinter der Theke im Gasthaus an der Kirche. Da wir beide – im zeitlichen Abstand – Absolventen des Lingener Georgianums waren, gab es genügend Gesprächsanlässe. Aber auch das Heuerlingswesen gehörte dazu. So erhielt ich eines Tages Post aus Bonn. Dr. Möller schickte mir eine Kopie des Standardwerkes des Heuerlingswesens, die Dissertation von Hans-Jürgen Seraphim aus dem Jahre 1948 mit dem Appell: Kümmere Dich mal um das Thema!

Diese Schrift lag nun an „meiner Bettkante“, immer wieder habe ich darin mit dem Stift gearbeitet.

Vor 24 Jahren bin ich dann aktiv geworden. Nachdem ich nach einer Vorlage von Seraphim zwei Fragebogen entworfen hatte (1. Bestandsaufnahme in den einzelnen Kirchspielen, 2. Einzelbefragung), schrieb ich die Heimatvereinsvorsitzenden im Altkreis Lingen dazu an. Die Reaktion war eindeutig ablehnend. Teilweise signalisierte man mir deutlich: Das Thema ist tabu. Darüber spricht man nicht!

Nahezu zeitgleich schrieb damals die Studentin Martina Greskamp (heute Oberstudienrätin Martina Goedejohann, Bohmte) in ihrer Staatsexamensarbeit über das Heuerlingswesen: In den meisten Fällen waren die angesprochenen Personen gar nicht bereit, Auskunft zu geben (S. 4).

Daraufhin entschloss ich mich, daraus mittelfristig ein Buchprojekt zu entwickeln, das sich durch die gezielte Suche in Archiven und Bibliotheken, aber auch durch persönliche Befragungen von Zeitzeugen (darunter zu gleichen Teilen Bauern wie ehemalige Heuerleute), allmählich strukturierte. Durch eine Reihe von Vorträgen in den Regionen Osnabrück, Bersenbrück, Diepholz und dem Emsland bekam ich eine Fülle an zusätzlichen Informationen und Hinweisen. Mir wurde zunehmend deutlich, dass ich angesichts der Komplexität und Sensibilität des Themas dringend fachwissenschaftliche Begleitung benötigte.

So war es für das Buchprojekt von ganz besonderem Vorteil, dass der Historiker Dr. Helmut Lensing,

ein gebürtiger Grafschafter mit Wohnsitz im Münsterland, Anfang 2014 auf meine Bitte als Mitautor einstieg. Er brachte mit seiner Fachkompetenz das Werk entscheidend voran. Nur so konnte es zu dem werden, was es jetzt ist: Ein Gemeinschaftsprojekt eines Historikers und eines Dorfschulmeisters, ein Gemeinschaftsprojekt auf Augenhöhe.

 

Mit Theresia Brüning (Jahrgang 1936) konnte eine besondere Zeitzeugin gewonnen werden. Als gebürtige Heuerlingstochter und spätere Magd erlebte sie in den ersten drei Jahrzehnten ihres Lebens noch die vorgegebene typische Biographie einer Landlosen in Nordwestdeutschland. Als langjährige Heimatvereinsvorsitzende im Lingener Ortsteil Bramsche wagte sie es schon sehr früh, das Heuerlingswesen in geeigneter Weise zur Sprache zu bringen. In einem beeindruckenden Aufsatz beschrieb sie in dem Buch „Uns gab es auch“ das Leben ihrer Mutter als Heuerlingsfrau

Ein umfangreiches Gespräch mit dem langjährigen Präsidenten des Deutschen Bauernverbandes Constantin Freiherr Heereman von Zuydtwyck auf der Surenburg ergab neuere Erkenntnisse zum Heuerlingswesen. Zum einen übernahm Baron Heereman bei der Erbschaft des mit der Surenburg verbundenen Besitzes noch 14 intakte Heuerlingsstellen. Er erlebte daher als Zeitzeuge die Auflösung dieser Sozialisationsform in den 1950er und 60er Jahren. Auch seine Erfahrungen als langjähriger anerkannter deutscher Bauernpräsident flossen in die Rückschau über das Heuerlingswesen ein. Die Anmerkungen und Hinweise des Adeligen zum Heuerlingswesen waren dann auch Anlass, zwei weitere Gutsbetriebe (von Twickel und Stift Börstel) unter diesem Aspekt zu betrachten.

Ein Rundschreiben an die Heimatvereinsvorsitzenden im Altkreis Bersenbrück 2012 erwies sich als außerordentlich effektiv. Die Rückantworten ließen die deutliche Erkenntnis zu: Das Thema Heuerlingswesen soll dort in der Region endlich auch einen maßgeblichen Stellenwert in der Heimatforschung erhalten. So wurde ich zu einem Vortrag auf der Jahreshauptversammlung sämtlicher Heimatvereine eingeladen. Daraus ergaben sich Bekanntschaften insbesondere mit Franz Buitmann  und Franz Vennemeyer.

Herausragend für dieses Buchprojekt wurde die intensive Zusammenarbeit mit dem Artländer Lübbert zur Borg aus dem Menslager Ortsteil Borg. Seine profunden regionalhistorischen Kenntnisse und die Fülle seiner familieneigenen Quellen und Fotodokumente, aber auch seine zahlreichen Veröffentlichungen insbesondere in den „Menslager Heften“, machten ihn zu einem wichtigen Gesprächspartner. Er starb Ende Juöi 2014.

Im heutigen Landkreises Diepholz fand ich einen wichtigen Unterstützer in Wilfried Meyer. Als Vorstandsmitglied des dortigen Kreisheimatbundes ermutigte er mich zu einem Rundbrief an alle Heimatvereinsvorsitzenden und Kommunalarchive wie im Altkreis Bersenbrück. Das Echo war enorm. Es ergab sich daraus ebenfalls eine Einladung zu einem Vortrag auf der Mitgliederversammlung des Kreisheimatbundes Diepholz. Auch dort war man sich einig, dem Thema „Heuerlingswesen“ eine besondere Stellung in der Vereinsarbeit der nächsten Jahre zukommen zu lassen. Wilfried Meyer bearbeitete dann auch meinen Fragebogen für Zeitzeugen dieser ehemaligen Sozialform und brachte ihn über die Heimatvereine in Umlauf.

Für den Großraum Osnabrück traf ich ebenfalls auf zwei besonders kundige Zeitzeugen: In einer Radfahrerrunde lernte ich den derzeitigen Vorsteher des Finanzamtes Lingen, Hubert Große-Börger kennen, dessen Vorfahren von einem Hof in Bad Laer südlich von Osnabrück stammen. Seine besondere Familiengeschichte recherchierten wir gemeinsam vor Ort.

Werner Beermann aus Oesede ist nicht nur durch seine Veröffentlichungen in Fachkreisen bekannt. Vor allem sein umfangreiches Fotoarchiv war für dieses Buchprojekt von besonderer Bedeutung. Mehrere Besuche bei ihm und ausführliche Fachgespräche insbesondere über die Industrieheuerlinge am Standort Georgsmarienhütte fanden im Buch dadurch ihren Niederschlag.

 

 

Mehrfach stieß ich in der Fachliteratur auf den niederländischen Historiker Jos Kaldenbach aus Alkmaar, einem Experten für deutsch-niederländische Verbindungen während der Hochphase des Heuerlingswesens. Daher fuhr ich zu einem Vortrag von ihm über die Ostindien-Kompanie ins Meyerhaus nach Berge. Im anschließenden persönlichen Gespräch ergaben sich gemeinsame Interessensschwerpunkte und Fragestellungen. Es wurde eine Zusammenkunft in den Niederlanden für den Juli 2013 vereinbart. Wir im trafen uns im Zentrum der „Niederländischen Gesellschaft für Familienforschung“ (NGV) in Weesp, etwa acht Kilometer östlich der Stadtgrenze Amsterdams. Die NGV hat etwa 10.000 Mitglieder und besitzt eine der größten genealogischen Sammlungen in den Niederlanden. Jos Kaldenbach ist dort der Fachmann für die Hollandgängerei, also für die „Gastarbeiter“ aus Deutschland, die vornehmlich aus der Gruppe der Heuerleute stammten. So ist er auch Vorsitzender der „Werkgroep Genealogisch Onderzoek Duitsland“ und der „Arbeitsgemeinschaft niederländischer Familienforscher mit deutschen Ahnen (www.wgod.nl). Durch ihn flossen Impulse aus der niederländischen Forschung in diese Arbeit ein.