Reise in die Vergangenheit
Knapp Gerd und seine Zeit
Sprecher:
Wir möchten euch nun auf eine kurze Reise in die Vergangenheit aktiv mitnehmen. Dazu gehen wir 190 Jahre auf unserer Geschichtsstraße zurück und befinden uns jetzt im Jahre 1825. Vor kurzem ist Knapp Gerd für seinen Mord an dem Heuermann Langhorst auf der Richtstätte mit dem Schwert enthauptet worden.
Ich darf nun hier drei Akteure vorstellen:
- da ist zunächst seine Frau, der nun als Witwe ein noch härteres Leben bevorsteht. Sie wird uns gleich berichten.
- Zum zweiten haben wir dort den Bauern Tyding aus Brögbern, er hat auf seinem Hof 16 Heuerlingefamilie untergebracht.
- Und nicht zuletzt haben wir einen Ackerbürger der Stadt Lingen, den Herrn Thomas Diepenbrock, einen Kaufmann. Ihm gebe ich nun das Wort.
Diepenbrock – der Städtker
Damit ihr euch gleich im Jahre 1825 zurechtfindet, nehme ich euch passend mit und weise euch in eure damalige wirtschaftliche, soziale und geographische Lage im Altkreis Lingen ein.
Glaubt nur nicht, dass ihr es euch alle so gemütlich wie heute in der Stadt einrichten könnt.
Nein, das Leben war damals ungemein härter und Lingen hatte sehr viel weniger Einwohner – auch im Verhältnis zu den umliegenden Dörfern.
Heute etwa 1:1 (auf einen Stadtbewohner kommt ein „Dörfler“)
1825 hatte Lingen 2000 Bewohner, der Kreis Lingen zählte insgesamt 24 000 Menschen, also 1:12.
Danach teile ich Euch nun ein:
2.000 Lingener
2.000 Kirchdörfler (wie Spelle, Freren etc.) – vornehmlich Handwerker
8.000 Bauern
12.000 Heuerleute
Witwe von Knapp Gerd
Zu den Heuerleuten muss ich euch etwas erzählen, das könnt ihr euch gar nicht mehr vorstellen.
Wir sind Menschen 2. Klasse
Wir wohnen in einer schäbigen Kate, Haus kann man dazu gar nicht sagen:
Nur das Fachwerk ist stabil, damit das Gebäude nicht gleich zusammenkracht.
- Die Wandgefache werden aus Lehm und Reisig eingebaut,
- Fenster gibt es kaum,
- einen Schornstein kennt man nicht,
- der Rauch zieht einfach durch die Decke ab,
- das Dach ist mit Stroh bedeckt, das der Wind im Winter manchmal in ganzen Fetzen abreißt
- und dann regnet es durch,
- der Boden ist nur aus gestampftem Lehm,
- die Feuchtigkeit dringt von allen Seiten ein,
- wir leben mit den Tieren in einem Raum,
- schon in jungen Jahren leiden wir an Rheuma und Tuberkulose.
Hier kommentiert die Witwe die Folie, die im Hintergrund der Bühne auf Leinwand zu sehen ist.
Bauer Tyding
Da muss ich aber jetzt mal eingreifen!
Ihr kennt mich sicher, ich bin der Bauer Tyding aus Brögbern und die Heuerleute auf dem Foto gehören zu meinem Hof. Ich gebe diesen 16 Familien etwas von meinem Grund und Boden ab und stelle ihnen auch Häuser zur Verfügung. Wo würden sie denn sonst bleiben. Was kann ich dafür, dass die Bevölkerung in der letzten Zeit durch die Einführung der Kartoffel so dermaßen gestiegen ist, dass meine Bauernkollegen und ich so schnell der Nachfrage nach keine neuen Häuser bauen können, und so musste ich in sechs Häuser gleich zwei Familien stecken.
Und glaubt nicht, dass alle Heuerleute fleißig wären.
Aber immerhin geht fast die Hälfte der Männer im Frühsommer nach Holland und bringt mir passendes Geld mit, denn das, was sie dort verdienen, müssen sie bei mir an Pacht ablangen. Und im Übrigen bleibt das Gebot bestehen: Wenn ich morgens pfeife, dann habt ihr prompt und ohne Murren zu erscheinen!
Sonst fliegt ihr aus der Heuer, und kein anderer Bauer nimmt euch wieder auf. Da sind wir Hofbesitzer uns einig.
Witwe von Knapp Gert
Ihr Bauern schickt eure Heuerleute in eine wahre Hölle auf den Hollandgang. Im Sommer ziehen sie am Martinitag los in die Gegend um Amsterdam. Durch Lingen wandern dann bis zu 25.000 Männer und auch einige Frauen in Richtung Niederlande.
Dort müssen sie von Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang im Akkord hintereinander mit der Sense mähen. Wer zurück bleibt, bekommt nicht den vollen Lohn. Dabei kippen sie vor Erschöpfung immer wieder ohnmächtig um. Dagegen hilft nur das Trinken von erwärmten flüssigen Schweinefett. Dagegen streikt allerdings der Magen nach spätestens vier Tagen. So kehren sogar schon junge Männer schwerkrank aus Holland wieder zurück.
Mein Mann Knapp Gerd war zäh und hat diese Prozedur über 20 Jahre ausgehalten und so konnten wir dem heimischen Bauern unsere Pacht wenigstens teilweise bezahlen. Als er im letzten Jahr jedoch beim Hollandbauern keine Anstellung mehr fand, hat er aus dieser Verzweiflung den Langeborg, der ihm bei der Arbeit vorgezogen war, auf dem Rückweg getötet.
Für mich steht fest: Die beiden Bauern haben ihn in eine tiefe Verzweiflung gestoßen.
Auf mich kommt nun nach dem Tode meines Mannes Knapp Gerd ein trostloses Schicksal zu:
- da ich jetzt als alleinstehende Frau nicht mehr die Pacht beim Bauern nicht mehr bezahlen kann, wird er mir die Heuerstelle kündigen und ich stehe mit meinen Kindern auf der Straße.
- Für einen anderen Mann bin ich zu alt – und wer wird sich wohl in dieser katholischen Gegend mit der Witwe eines Mörders zeigen wollen.
- Mich erwartet ausschließlich ein elendes Leben in einem Armenhaus.
Immer wieder haben mein Mann Gerd ich davon geträumt, wie gut wir es hätten haben können, wenn wir
anstatt Heuerleute
Ackerbürger in der Stadt Lingen hätten sein können!
- Dann wären wir geschützte Handwerker durch die Zunft,
- als Kaufleute gäben uns die Gilden Rechte und Sicherheiten
- wir hätten ein eigenes Haus
- und den begehrten eigenen Grundbesitz, auch wenn er nur klein ist
- wir besäßen einen Anteil an der Kuhweide (Allmende)
- wir hätten einen besseren gegenseitigen Schutz vor Räuberbanden
- vor allem aber, wir wären keine Menschen 2. Klasse mehr.
- Ja, ja Stadtluft macht frei von der Macht der Bauern.
Wenn also ein Witwer oder ein Junggeselle unter euch ist, ich bin wieder zu haben
Aber – ihr Städtker seid genauso hochnäsig wie die Bauern!
Geht mir doch alle aus dem Weg –
meine Lage ist aussichtslos!