Mangelnde Wertschätzung der Frau

                             Die Wertschätzung der Frau damals

Ein „besonderes“ Beispiel für die Stellung der Frau auf dem Lande damals soll hier vorgestellt werden – und dabei stand die Heuerlingsfrau noch weit unter der Bäuerin:

Während eine tragende Stute drei Monate vor und nach dem Abfohlen geschont wurde, galt für die schwangere Frau auf dem Lande eine Schonfrist von lediglich sechs Tagen: drei vor der Entbindung und drei danach.

Die  Erklärung dafür, die von älteren Zeitzeugen durchweg bestätigt wird, kann für uns heute nur unglaublich sein:

Während ein Pferd ähnlich wie eine Kuh ungemein teuer und somit kaum zu ersetzen war, fand sich ein Ersatz für eine verstorbene Frau ganz schnell in der Reihe der unverheirateten sog. Tanten oder der  Mägde. So wurde in der Regel auch schon nach drei Monaten wieder geheiratet. Ein Blick in die Kirchenbücher belegt das.

Die  berühmte  Malerin Paula Modersohn-Becker berichtete  dazu  aus dem Teufelsmoor bei Bremen.

Eine wahre Geschichte hier aus der Gegend: Jemand kommt in ein Bauernhaus und will  den Bauern sprechen. Die Frau steht am Feuer und sagt:  „He hett sick een beten hinleggt. Wi hebbt en beten unruhige Nacht hat. Sie hatte nämlich nachts ein Kind bekommen.

Rabenstein, Peter: Jan von Moor. Ein Heimatbuch vom Teu­felsmoor, Fischerhude 1982. Seite 3

Emsländische Siedler im ehemaligen deutschen Osten (Giesenbrügge)

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  • Ludwig Giese (HV Vorsitzender von Langen) fährt mit einer interessierten Busgesellschaft dorthin nach Polen
  • Bernd Schwarte aus Lingen/Bramsche kann mehr dazu erzählen: Seine Familie hatte 1928 dort gesiedelt.
  • Nachfolgend ein Zeitungsartikel das vom 09. August 2016 in der Lingener Tagespost von Jessica Lehbrink

FLUCHT DER HEUERLEUTE

Die Rückkehr von Emsländern aus Polen in die Heimat

Lingen. Schon im letzten Jahrhundert kämpften Heuerleute im Lingener Land um ihre wirtschaftliche Existenz. Die Lösung: Siedeln. Das Museum des Heimatvereins Langen erzählt anhand vieler Details in einer Dauerausstellung die Geschichte der Rückwanderer im Heuerlingswesen von Polen zurück in ihre emsländische Heimat.

Als sich im Emsland noch viele Moore erstreckten und der Beruf des Landwirts und der Heuerleute am weitesten verbreitet war, hatten viele von ihnen mit sozialen und arbeitsrechtlichen Missständen zu kämpfen. War es zumeist der älteste Sohn, der als Erbe eines Hofes auserkoren wurde, hatten die nachfolgenden Geschwister Mühe, ihren Stand auf den bäuerlichen Anwesen klarzustellen.

Unter anderem diese Gründe und die krisenhafte wirtschaftliche Entwicklung der deutschen Landwirtschaft Mitte der 1920er Jahre führten dazu, dass einige Emsländer sich entschlossen, als Heuerleute in anderen Landen Fuß zu fassen, um den vorherrschenden ärmlichen Verhältnissen zu entfliehen.

Aufbruch in ein neues Land

Auf die Frage wohin die Heuerleute siedeln sollten, kam 1925 die Antwort durch den Vorsitzenden des Reichsverbandes Landwirtschaftlicher Klein- und Mittelbetriebe in Berlin und späteren Bundespräsidenten, Heinrich Lübke: Er kaufte im damals noch pommerschen und heute polnischen Giesenbrügge im Kreis Soldin das Gut der Familie Treskow, woraufhin sich drei Jahre später 35 emsländische Familien entschieden, dorthin zu ziehen. Bessere Böden zum Beackern und bessere Lebensbedingungen erwarteten die Siedler dort und bald hatten sie sich, 600 Kilometer entfernt von ihrer eigentlichen Heimat eingelebt. Sie schafften es sogar, ihren katholischen Glauben in der sehr stark protestantisch geprägten Region zu leben und sich eine eigene Glaubensgemeinde aufzubauen.

Flucht in die ehemalige Heimat

Doch so schön sich das Leben für die Siedler in ihrer neuen Heimat auch gestaltete – mit Einzug der Roten Armee Anfang 1945 blieben die beschaulichen Dörfer in Soldin nicht verschont: Männer und Jugendliche wurden verschleppt, unzählige Menschen wurden erschossen. Als Vertriebene zog es die Siedler nun auf weiten Wegen, meist zu Fuß, zurück in die Heimat. Mangelerscheinungen waren dabei der bittere Alltag, so das viele die Flucht nicht überlebten.

So erging es auch der Familie Thien aus Langen. Nach einer strapaziösen Flucht führte sie ihr Weg zuerst in Langens benachbartes Dorf Gersten, bevor sie in Niederlangen-Siedlung ihr neues Zuhause fanden. 1948 kehrte ihr ältester Sohn Bernhard aus russischer Gefangenschaft zurück. Heute wird der landwirtschaftliche Betrieb Thien von Paul und Claudia Thien im Sinne ihrer Eltern und Großeltern geführt.

Reise in die Vergangenheit

Intensiv mit dem Heuerlingswesen und der Geschichte der Rückwanderer beschäftigte sich der Heimatverein Langen, insbesondere Ludwig Giese. Ende Juni organisierte der 65-Jährige eine mehrtägige Fahrt nach Stettin, wobei auch Orte wie Giesenbrügge auf dem Plan standen. Dort konnten sich die emsländischen Teilnehmer bei dem Anblick alter Gebäude und auch des ehemaligen Grundstückes der Familie Thien, ein Bild von den damaligen Aussiedlern und ihrem Leben machen.

Ein Stück Familiengeschichte entdecken

Eine Dauerausstellung zum Heuerlingswesen im Museum des Heimatvereins Langen zeigt viele Raritäten oder auch ein maßstabgetreu nachgebautes Modell eines Heuerhauses. Dort können sich Besucher in eine andere Zeit zurückversetzen lassen. Aber auch ortsansässige Familien können hier ein wenig Ahnenforschung betreiben: In säuberlich sortierten Ordnern ist ein Großteil der Landwirte und Heuerleute aus früheren Zeiten aufgelistet und dokumentiert. Teilweise finden sich sogar noch gut erhaltene Briefe oder Fotos von längst vergessenen Verwandten wieder.

Ein Artikel von Jessica Lehbrink

Weitere Hinweise auf dieser Website:

http://www.heimatverein-langen.de/der-verein/fahrtberichte.html

 

 

Gutes Bauernhaus in Holland

BAUERNHAUS IM HOLLÄNDISCHEN DORFE BELLINGWOLDE

Das holländische Dorf Bellingwolde liegt ganz nahe der Grenze
zwischen Deutschland und den Niederlanden. Es steht auf dem Boden des gleichen Bourtanger Moores, das in Deutschland, nämlich im Ems land, fast unkultiviert blieb, während auf dem gleichen Boden  in Holland eine im wahrsten Sinne volkswirtschaftliche Arbeit geleistet wurde, die dem Ganzen u n d dem Einzelnen diente. Das Bauernha us des vorstehenden Bildes ist  nicht  etwa  eine Ausnah meerscheinung für das Grenzdorf Bellingwolde, sondern ein Typ im Sinne einer holländischen Selbstverständlich keit. Aber im deutschen  Emsland sind Bauern und Heuerlinge nicht sehr weit vom Verhungern. Ungezählte Heuerlingsfamilien schlafen in „Butzen”, schlafen auf Strohlager in einer geräumigen Kiste, über sich das durchlöcherte Dach, durch das Regen und Schnee fällt. Die Tuberkulose ist ihr jahrzehnte langes, ach, jahrhundertelanges Schicksal.

 

Heinrich Kuhr – ein Siedlungspionier

  Heinrich Kuhr gab den Heuerleuten eine Stimme

 Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges kehrten zahllose emsländische Heuerleute von der Front zurück in die Heimat. In der Regel waren sie vor dem Krieg nicht über ihre eigenen Heimatsgrenzen hinaus gelangt. Nun besaßen sie aber Kenntnis über die Lebensumstände in anderen Landstrichen, was ihnen ihre nicht selten elende Lage drastisch vor Augen führte. Wirtschaftlich befanden sie sich ganz und gar in Abhängigkeit von dem Bauern, der ihnen Land zur Bewirtschaftung verpachtet hatte. Häufig wohnten sie bei ihm im hofeigenen Heuerhaus zur Miete. Die Gegenleistungen der Heuerleute waren von Ort zu Ort sehr unterschiedlich und reichten von landwirtschaftlichen Hilfsarbeiten und/oder der Zahlungen in Bargeld bis hin zur Unterstützung der Bauernfamilie beim Brotbacken oder beim Waschen. Die genaue Ausgestaltung dieser gegenseitigen Verpflichtungen basierte durchweg auf mündlichen Vereinbarungen. Hieran entzündete sich in der Nachkriegszeit ein folgenreicher Streit.

 Am Himmelfahrtstag 1919 wurden die Heuerleute des Lingener Landes aktiv. Auf einer Protestkundgebung in Lengerich forderte Josef Deters aus Handrup eine ausreichenden politische Vertretung der Heuerleute und Knechte sowie die Verabschiedung neuer Gesetze, um die ländlichen Löhne, den Pachtschutz und die Mieten verbindlich zu regeln.

Zur Förderung dieses Begehrens gründete man den Verein christlicher Heuerleute, Kleinbauern und Pächter (VCH). Diesem Verein schloss sich der Heuerlingssohn Heinrich Kuhr aus Bramhar/Kreis Meppen an.

Kuhr hatte noch sieben Geschwister und kannte die Armut der Heuerleute aus eigener Anschauung. 1920 heiratete der kriegsversehrte Heuermannsohn die Heuermannstochter Josephine Hilbers aus Bramhar/Kreis Lingen und arbeitete bis 1926 auf der väterlichen Heuerstelle.

 1923 erwarb er im Bienerfeld 11 Hektar Land, das er nebenbei nach und nach kultivierte. Schließlich zog er als Siedler nach Bienerfeld um.

 Inzwischen war Heinrich Kuhr zum führenden Heuerlingsvertreter der Region Emsland/Grafschaft Bentheim aufgestiegen. Aufgrund des enormen Mitgliederzuwachses stellte die VCH Anfang 1920 den Gründer Josef Deters als hauptamtlichen Geschäftsführer ein und wählte Kuhr zum Vorsitzenden.

Sitz der Organisation wurde nun Lingen. Kuhr vertrat den Verband bei Verhandlungen mit Ministerien in Berlin. Zusammen mit einem verbündeten Heuerlingsverband aus der Osnabrücker Region konnte noch 1920 die Verabschiedung eines vorläufigen Pachtschutzgesetzes durch den preußischen Landtag erreicht werden. Es bewahrte die Heuerleute davor, von einem Tag zum anderen gekündigt zu werden. Der VCH dehnte sich über das ganze Emsland, Grafschaft Bentheim und die katholischen Teile des angrenzenden Osnabrücker Umlandes aus.

 1923 hatte der Verband unter Führung Kuhrs ca. 3000 Mitglieder und war neben dem emsländischen Bauernverband (EBV) die einflussreichste Organisation des Emslandes. Bedeutende Repräsentanten des EBV besaßen einflussreiche Positionen in der emsländischen Zentrumspartei. Die Heuerleute sahen demgegenüber im Osnabrücker Sekretär der katholischen Arbeiterverbände, Josef Hagemann, den Mann ihres Vertrauens. 1919 noch ein Spitzenkandidat der Zentrumspartei, war Hagemann zu Gunsten des EBV Vertreters Theodor Pennemann aus Brual zur Reichstagswahl 1920 und auch 1924 auf einen aussichtslosen Listenplatz abgerutscht. Die aufgebrachten Heuerleute, deren Hoffnung auf eine Aufwertung Hagemanns enttäuscht worden waren, wanderten unter der Führung von Josef Deters 1924 daher in Scharen zu einer neuen Splitterpartei ab.

 Im Gegensatz zu Deters engagierte sich Kuhr, bereits 1921 für die katholische Zentrumspartei in den Lingener Reichstag eingerückt, in dieser neuen Partei jedoch nicht. Aufgrund ihrer schweren Wahlniederlage kam das Zentrum Ende 1924 den Heuerleuten politisch und personell entgegen. Kuhr wurde daher von 1925 bis 1933 als Spitzenkandidat des Zentrums in den Hannoverschen Provinziallandtag entsandt und gelangte gleichzeitig in den einflussreichen Lingener Kreisausschuss, in dem er bis 1937 verblieb. Zur Förderung der Siedlungspläne konstituierte der VCH 1926 die erfolgreich arbeitende Siedlungsgenossenschaft „Emsland“. Als treibende Kraft wurde Heinrich Kuhr ihr Vorsitzender. Bis Ende 1930 konnten bereits auf fast 2500 Hektar gekauften bzw. enteigneten Ödland ehemalige Heuerleute angesiedelt werden.

 Wegen der Enteignung von Land war Kuhr bei den Großbauern verrufen und galt in ihren Reihen als der „rote Heinrich“. Kuhr war ein Freund des späteren Bundespräsidenten Heinrich Lübke, der seiner Fürsprache 1922 die Berufung zum Geschäftsführer eines Zusammenschlusses von Kleinlandwirteverbänden verdankte. 1932 konnte Kuhr als Vorsitzender der Siedlungsgenossenschaft „Emsland“ das Dorf Osterbrock aufbauen – Kuhrs Lebenswerk.

 Die Machtübernahme der Nationalsozialisten brachte das abrupte Ende für die christliche Heuerleutebewegung und ihre Siedlungspläne, da die emsländischen Ödlandflächen jetzt mit Straf – und Konzentrationslagern überzogen wurden.

Doch 1945 gehörte Heinrich Kuhr zu den Männern der ersten Stunde. Die britischen Besatzungsbehörden beriefen ihn in den Lingener Kreistag und in den Bezirkslandtag für den Regierungsbezirk Osnabrück. Dort war der Heuerleutevertreter für Ernährung, Landwirtschaft und Siedlungswesen verantwortlich.

 1946 betätigte sich Kuhr an den Vorbereitungen zur Gründung des Emsländischen Landvolks, dessen stellvertretender Vorsitzender er bei der Konstituierung im Februar 1946 wurde.

 Altersbedingt nahm Kuhr Anfang der 1960er Jahre Abschied von der Politik.

Aus dem Leben einer Heuerlingsfrau

Der Bericht von Theresia Brüning, die in einem Heuerhaus aufgewachsen ist und dann mit vierzehn Jahren direkt nach der Volksschule noch einige Jahre – ganz selbstverständlich für eine Heuerlingstochter  – als Magd auf einem Bauernhof im benachbarten Dorf gearbeitet hat.

Sie erzählt über ihre Mutter:

 

 

 

 

 

 

 

 

Familienfoto Heuerleute Brinker, links neben ihrer Mutter im hellen Kleid steht Theresia.

Aus dem Leben einer Heuerlingsfrau

Ein um etwa 1800 eingeheirateter Vorfahre war Schreiber. Mein Urgroßater und mein Großvater waren Weber und Musiker. Wie mein Vater berichtete, habe mein Großvater jährlich manchmal 200 Mark mit dem Musizieren auf Bauernhochzeiten verdient. Mein Vater fand keinen Gefallen am Musizieren. Er verdiente beim Bau des  Dortmund – Ems –  Kanals, wie so viele junge Männer damals, Geld dazu. Das Weberhandwerk brachte auch nicht mehr viel ein, da überall große Fabriken mit der Weberei begannen. Mein Großvater hatte noch zwei Webstühle besessen und zeitweilig zwei Gesellen beschäftigt. Wenn man dabei das kleine Haus betrachtet und noch acht Kinder mitgerechnet, hatte die Hausfrau wohl alle Hände voll zu tun. Aber davon wird auch im Tagebuch meines Vaters nichts erwähnt!

Mit  „unserem” Bauern verband uns  ein den Umständen entsprechend recht gutes Verhältnis, wobei mein Vater sehr gefügig war und die Beziehung Bauer – Heuermann respektierte. Nachdem seine Mutter gestorben war, und seine jüngste lebende Schwester sich verehelicht  hatte, heiratete mein Vater zum ersten Mal 1905. Bis 1910 wurden drei Jungen geboren. Dann starb 1911 im Oktober seine Frau an Tuberkulose. Sie hatte sich diese Krankheit zugezogen, nachdem sie ihr Ehebett der Schwester meines Vaters zur Aussteuer mitgegeben hatte. Es muss wohl kein Geld da gewesen sein, um der Schwägerin ein neues Gerät zu kaufen. Die Frau meines Vaters erhielt dafür das Oberbett einer jüngeren Schwester meines Vaters, die kurz vorher an Tuberkulose gestorben war. Als jüngste Schwester der Frau meines Vaters vom Tod ihrer Schwester erfuhr, soll sie gesagt haben: „Den Bernd kannst du nicht allein lassen, den musst du nun heiraten”.

So heiratete meine Mutter mit 21 Jahren ihren Schwager am 13. Februar 1912, nahm  3 kleine Kinder als ihre eigenen an und übernahm die Pflege des alten Schwiegervaters. Dazu noch die Pflichten einer Heuerligsfrau. Im Herbst 1913 wurde ihr erstes Kind geboren.

1914 brachte Weltkrieg aus.

Mein Vater musste den Krieg vom Anfang bis zum Ende mitmachen. In der Kriegszeit starb der Großvater, es wurden noch zwei Kinder geboren. Was meine Mutter damals mitgemacht hat, können wir heute nur noch ahnen.

Weil durch die Verwandtschaft von anno dazu mal unser Haus unser Eigentum war, brauchte beim Bauern nicht zu viel gearbeitet zu werden. Aber auch so wird es nicht an Arbeit gemangelt haben. Je Scheffelsaat muss ein bestimmter Teil an den Bauern abgegeben werden und für je zwei Scheffelsaat einen Tag unentgeltlich geholfen werden. Nach dem ersten Weltkrieg wurde statt mit Korn mit Geld bezahlt.

Die Bauersfrau nahm meine älteste Schwester mit zwei Jahren zu sich. Wohl aus Ohnmacht sagten meine Eltern zu und gaben ihr Kind außer Haus. Uns jüngeren sagte Vater später:  „… und wenn ihr nur trockenes Brot zu essen hat, geht kein Kind aus dem Haus. Ich habe es schwer bereut”. Wenn er im Krieg im Urlaub war, wurde auch meine Schwester geholt. Die sagte aber nur: „Geht der fremde Mann endlich wieder.”  Sie hatte bis zu ihrer Entlassung wenig Kontakt zu ihrem Elternhaus. Es muss für Mutter sehr schwer gewesen sein, zumal wir bei dem Bauern auf dem Hofraum wohnten. Jeden Tag sah sie das Kind und konnte ihm doch nicht zeigen, wie lieb sie es hatte. Im Abstand von jeweils eineinhalb bis zwei Jahren wurden insgesamt zwölf Kinder geboren. An Verhütung oder gar Abtreibung wurde aus christlicher Überzeugung gar nicht gedacht. Das Sprichwort: „Mehr Kinder, je mehr Vater unser” hatte große Bedeutung. Aber wie hat meine Mutter das alles verkraftet? Es bleibt für uns Jüngere eine große Frage, die wir uns als Kinder nie gestellt haben.

Wenn wir auch nicht die meiste Arbeit beim Bauern zu leisten hatten, so kam doch alle Vierteljahre die große weiße Wäsche, die –  egal ob Mutter in Umständen war, oder ein Kind stillte –  getan werden musste .

Nun vergleiche man den Zustand von damals mit dem von heute. Am ersten Tag wurde die Wäsche  in einer großen hölzernen Wanne in lauwarmer Lauge eingeweicht. Mit bloßen Füßen wurde die Wäscher getreten, damit alles gut durchziehen konnte. Am anderen Tag wurde alles mit der Hand ausgewrungen. Weil damals fast alles aus selbst gewebtenten Leinen gefertigt war, war das bestimmt keine leichte Arbeit für eine Hochschwangere. Nach dem Kochen der Wäsche im großen Futterkessel, der vorher gut gereinigt worden war, oder im Waschkessel, musste alles auf dem Rubbelbrett oder mit der Hand in der heißen Waschlauge gewaschen werden. Danach wurde alles dreimal gespült. Das Wasser musste aus der „Pütte” (Brunnen) geholt werden, etwa 20 bis 30mal pro Waschgang. Danach war aber noch lange nicht Feierabend. Hat meine Mutter den überhaupt je gekannt? Zuhause warteten ja noch die Kinder. Die Kühe wollten gemolken werden. Das war alles nicht so einfach wie heute. Für die Schweine wurde der Futterkesseln gekocht. Die kleinen Kartoffeln, Futterrübenblätter oder Brennnesseln kamen in den Kessel mit ein oder zwei Eimern Wasser. Wenn alles gar war, musste es verkleinert werden, und dann konnten die Schweine gefüttert werden. Das war eine Zeit raubende Arbeit und der Tag hat nur 24 Stunden.

Nebenbei musste der eigene Gemüsegarten gepflegt werden. Auf den Kartoffeln – und Rübenfeldern musste die Mutter im Frühjahr tagelang beim Bauern jäten und hacken. Am schlimmsten aber war die Erntezeit. Als mein Bruder Paul, geboren am 8.7.1926, klein war, musste einer der älteren Brüder, er war sechs Jahre alt, den Kleinen aus der Wiege nehmen, in einen Handwagen legen und zum Mutter aufs Feld bringen. Sie war beim Bauern beim Roggen mähen, und die Zeit, nachhause zu gehen und das Kind zu stillen, gab es nicht. Sie setzte sich dann hinter eine Roggen Garbe und stillte den Kleinen.

Zwei Jahre später wurde ich im August geboren. Als meine Brüder sechs und acht Jahre alt waren, mussten sie mit Mutter aufs Feld und das Korn mit dem Bick zusammenziehen, damit sie nur noch die Garben zu binden brauchte. Sie war im achten Monat schwanger mit dem zehnten Kind.

Ich erinnere mich an einen Sommertag, als die Mutter wieder beim Bauern auf dem Felde arbeitete. Wir waren mit den Bauernkindern auf dem. Ich wusste, dass Mutter krank war und ihr die Arbeit schwer fiel, ich selber war im ersten oder zweiten Schuljahr und sollte Mutter beim Garben zusammenkratzen helfen. Nun sah ich die junge Bauersfrau, die sich an der großen Dielentür anlehnte und aufs Feld hinausschaute. Voll Zorn und Grimm habe ich sie angesehen und bei mir gedacht: „So eine Ungerechtigkeiten. Mutter ist krank und muss zum Roggen mähen, und die braucht das nicht.”

Dieses Bild habe ich noch heute vor Augen. Ich ahnte damals als Kind ja nicht die volle Abhängigkeit vom Bauern. Wenn die Kinder neun oder zehn Jahre alt waren, kamen sie normalerweise als Kuhjunge oder Köchin zu einem  Bauern.

 Bernd, der zweiter Halbbruder, hat als Säugling Krämpfe gehabt und war seitdem behindert. Er kam als Kind zu Vaters Bruder, der selber keine Kinder hatte. Als meine Eltern bemerkten, dass er es dort nicht gut hatte, nahmen sie ihn wieder zu sich. Für uns Kleinen war er dann später das Kindermädchen. Er spielte mit uns und führte uns im Bollerwagen spazieren. Sein Verstand reichte auch später nicht an den eines Zehnjährigen heran, aber man konnte sich ganz auf ihn verlassen.

Meine beiden 12 und 13 Jahre alten  Schwestern waren nicht zuhause, um der Mutter zu helfen. Von den sechs Jungen vor mir konnte Mutter wohl auch keine große Unterstützung erwarten. Meinen Vater kannte ich nur als „älteren Mann”, der durch eine Verletzung etwas hinkte. Als Nebenverdienst hatte er den Milchwagen nach Plantlünne zu fahren, so dass er jeden Vormittag außer Hauses war. Als mein  jüngster Bruder 1931 geboren wurde, war meine Mutter schon krank. Sie musste an der Galle und später noch zweimal am Unterleib operiert werden.

Um die Eltern zu unterstützen, gaben die älteren Geschwister einen Teil ihres verdienten Geldes zuhause ab. Kindergeld wie heute gab es nicht. 1935 heirateten meine beiden ältesten Brüder und meine älteste Schwester. Da alle sehr genügsam waren, hatten sie sich noch eine kleine Aussteuer erspart.

Wir drei Jüngsten brauchten als Kinder nicht aus dem Haus. Der Zweitjüngste starb an Krämpfen, während meine Mutter noch im Wochenbett lag. Ich erinnere mich, dass Mutter davon erzählte:  „Ich wusste, dass er tot war. Dennoch habe ich ihn bis zum nächsten Morgen bei mir im Bett gehalten. Ich konnte das kleine Ding doch nicht einfach weg legen.”

Obwohl der Vater, wahrscheinlich als Folge der Kinderzahl und seiner Behinderung am Bein, sehr streng war, haben wir eine schöne Kindheit verbracht. Trotz ihrer Krankheit spielte Mutter an den Sommerabenden manchmal mit uns „Blinde Kuh” oder  „Sack hüpfen”. Mit mir spielte sie „Ball an die Wand”, was sie mit  2 und 3 Bällen konnte. Darauf war ich richtig stolz. Sie muss auch sehr gut im Handarbeiten gewesen sein, denn begeistert zeigte sie mir ihre Handarbeiten aus der Schulzeit. Alles wurde schön aufbewahrt. War die Woche ausgefüllt mit landwirtschaftlichen Arbeiten, so wurden im Sonntagnachmittag nach dem Kirchgang und dem Lesen der Handprostille und des Kirchenbotens unsere Kinderstrümpfe und die Socken der Jungen gestopft. Einmal hatte Mutter durch eine Bekannte etwas vom „Strickstopfen“ gehört. Sie ließ nun nicht mehr locker, bis sie diese Kunst beherrschte. Man konnte damit in den selbstgestrickten Strümpfen die große Löcher vor den Knien so stopfen, dass es fast nicht mehr auffiel. Sparsamkeit war Mutter zur zweiten Natur geworden.

Wir Kleineren waren nun soweit herangewachsen, dass sie wenig Arbeit mit uns hatte, wir konnten vielmehr ihr schon einige Aufgaben abnehmen.

Dann kam der zweite große Krieg.

 Die beiden ältesten Brüder wurden sofort eingezogen. Danach wurde mein Vater ernsthaft krank. Er starb im Februar 1940, 61 Jahre alt, an Embolie und Herzversagen. Ich sehe Mutter noch weinend am Herd stehen und höre sie sagen: „Ich hätte ihn so gerne noch gepflegt, wenn er nur geblieben wäre.“ Meine jüngste Schwester kam wieder ins Haus, um der kränkelnden mit Mutter zu helfen und für sie die Arbeiten beim Bauern zu verrichten.

Der Krieg holte alle meine Brüder, einen nach dem anderen, aber einer war immer zuhause, um die Männerarbeit zu verrichten. Hatte er das Alter zur Einberufung, dann kam der nächste nach Hause, bis auch er eingezogen wurde. Nach dem Fünften erhielt Mutter die Nachricht, sie könne einen Sohn reklamieren. Als die Reklamation lief, kam die Nachricht, gerade derjenige sei in Russland gefallen. Ein Jahr später wurde ihr eigener ältester Sohn Trichinen  krank entlassen. 1943 kam die  Vermisstenachricht des dritten Sohns. Gott sei Dank hatte er sich kurze Zeit später aus einem Lazarett gemeldet, er hatte den linken Arm verloren. 1944 fiel der jüngste der eingezogenen acht Söhne mit 18 Jahren.

War es der Krebs, der Mutter zu schaffen machte oder konnte ihr Herz das alles nicht mehr verkraften? Sie starb im Mai 1945 kurz nach dem Ende des Krieges im Alter von 54 Jahren, ausgezehrt und verbraucht.

Nie habe ich sie verdrießlich oder böse gesehen. Wenn sie Ärger hatte, so hat sie uns das nicht gezeigt. Unsere Dummheiten hat sie immer stillschweigend ausgebügelt. Der jüngste Halbbruder sagte 1945, als er aus der Gefangenschaft kam: “ich habe sie nie verzagt gesehen. Sie hat uns nie merken lassen, dass wir nicht „ ihre“ Kinder waren”.

Er weinte dabei still.

Theresia Brinker (2015) Archiv Robben