Sittliche Gefahren für den Hollandsgänger.

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Sittliche Gefahren für den Hollandsgänger.

 Nicht minder groß, als für die Gesundheit und das Leben des Leibes, sind die Gefahren und Nachteile für die Gesundheit und das Leben der Seele der Hollandsgänger. Die weite Reise, die oben geschilderte Lebensweise der Arbeiter, das enge und vertraute, längere Zeit fortgesetzte Zusammenleben oft vieler Menschen von verschiedenem Alter und gesellschaftlichen Verhältnissen, von verschiedenem Charakter, verschiedenen religiösen und sittlichen Anschauungen und Bestrebungen, die verhältnismäßig große Geldsumme, in deren Besitz sie sich nach beendigter Arbeitsperiode gesetzt sehen, die Nähe großer, volkreicher Städte mit ihren vielen Gelegenheiten zu Genüssen aller Art – wie viele Gefahren bergen sie nicht in sich, wie viele Gelegenheiten bieten sie, Böses zu sehen und zu hören, Kenntnis zu erhalten von Dingen, welche das Herz des schlichten Landmannes zu Hause nie geahnt hätte, und den Reiz in sich aufzunehmen zu Genüssen, welche ihm zu seinem Heile nie bekannt werden sollten, wie viele Anknüpfungspunkte für schlechte Verführer, den Keim des Bösen in ein noch unschuldiges Herz zu senken!

Wenn man die bösen Gelüste des Menschen, die Macht der Sinnlichkeit, die verführerischen Reize des Bösen, das ungeheuere Streben nach Genuss, welches den Menschen beherrscht, ins Auge fasst und dann erwägt, dass eben Jünglinge von 15 – 25 Jahren einen großen Teil der Arbeiter ausmachen, unerfahrene Jünglinge, die auf dem Lande in aller Einfachheit erzogen, zu wenig gewaffnet sind gegen die mancherlei Künste der Verführung, die ihrer draußen warten, so wird man sich der Überzeugung nicht erwehren können, dass die sittlichen Gefahren, welche die Arbeiter-Wanderungen mit sich führen, groß, außerordentlich groß sind.

Das bestätigt denn auch die Erfahrung. Eine recht böse Neigung, welche erfahrungsgemäß durch das Hollandsgehen befördert wird, ist das Branntweintrinken.

Es ist ein bekanntes Vorurteil, gegen welches die über alles Lob erhabenen Bestrebungen der Enthaltsamkeits- und Mäßigkeitsvereine immer noch vergebens ankämpfen, dass nämlich bei besonders schweren Arbeiten oder bei Beschäftigungen in der Nässe oder großer Hitze der Branntwein als stärkendes und schützendes Getränk kaum zu entbehren sei. Demnach greifen auch unsere Arbeiter in der Fremde beim Mähen oder Torfbereiten gern zur Branntweinflasche, da sie meinen, in dem Branntwein Ersatz für die mangelnde nahrhafte Kost zu finden und ein Schutzmittel gegen drohende Krankheiten, und sie tun das um so eher und lieber, als es ihnen in Holland sowohl, wie in Holstein, Mecklenburg e. t. c. sehr leicht gemacht wird, Branntwein zu bekommen, von manchen Arbeitgebern sogar täglich eine gewisse Quantität Branntwein den Arbeitern verabreicht wird.

Das Beispiel und Zureden der älteren Genossen veranlasst auch die jüngeren, obschon zu Hause vom Pfarrer und Lehrer vor dem Laster der Trunksucht und der Schädlichkeit des Branntweins vielfach gewarnt, zuzuschmecken, und sie schmecken in der Regel so lange, bis ihnen der Schnaps wie den andern zum Bedürfnis wird. Ist es dann einmal dahin gekommen, so trinken sie nicht bloß bei der Arbeit, sondern auch Sonntags, um sich einen besonderen Genuss zu verschaffen, und im Winter zu Hause, auf der Reise und überall, und werden auch nicht alle leidenschaftliche Säufer, welche durch ihre Trunkfälligkeit öffentliches Ärgernis geben, so werden doch viele, die meisten Hollandsgänger mindestens trostlose Gewohnheitstrinker und leiden unter den schweren Folgen dieser traurigen Neigung. Das rohe, wüste Benehmen, welches zur Zeit der Arbeiterwanderungen an den Haltestellen und Stationen der Eisenbahnen vielfach Aufsehen erregt, ist nur eine Wirkung des reichlich genossenen Branntweins, und zahlreiche Excesse, welche auf Märkten und bei öffentlichen Lustbarkeiten in Herbste und Winter von heimgekehrten Arbeitern verübt werden, zeugen von dem Geiste, den sie aus der Fremde mitgebracht haben.

Eine andere nicht minder große Gefahr, in welche die Hollandsgänger kommen, ist die zur Unsittlichkeit. Um die Größe dieser Gefahr zu begreifen, denke man sich junge, unerfahrene Leute im Alter von 15 – 25 Jahren, also in der gefährlichen Periode des Lebens, wo sich mit der zunehmenden Kraft des Körpers der sinnliche Reiz so mächtig entwickelt, in größerer Reisegesellschaft von Menschen aller Art, wo die lange Muße der mehrtägigen Eisenbahnfahrt gar gewöhnlich mit Branntweintrinken, rohen Reden und frivolen Liedern zu kürzen versucht wird oder bei der Arbeit, wo leichtfertige Reden und Witze, so häufig den Hauptgegenstand der Unterhaltung bilden; oder in den gemeinsamen Schlafräumen, wo das zarte Gefühl so vielfach verletzt werden kann!

Man denke sich solche jungen Leute gegenüber den Verführungskünsten leichtsinnigen Gesindels, gemeiner Burschen, gegenüber den Gefahren und sinnlichen Anreizungen jener großen Städte, durch welche ihr Weg sie führt, dem Sittenverderbnis, wie es sich in vielen der von den Arbeitern besuchten Gegenden vorfindet! Man erwäge endlich, dass allen diesen Verführungen und Reizungen zum Bösen der schlichte, unerfahrene Jüngling schutz- und ratlos gegenüber steht. Er ist in der Fremde, allein! Zu Hause stehen ihm, wenn sittliche Gefahren drohen, Eltern, Pfarrer, Lehrer, Freunde ratend und warnend zur Seite, Furcht und Scham halten zurück, die Kirche, der Gottesdienst, die Unterweisung in Predigt und Christenlehre, der Umgang mit den vormaligen Mitschülern, die gewöhnlichen, wie die unerwarteten Ereignisse in der Gemeinde, dieses alles wirkt mahnend und zurückhaltend zu seiner Rettung. Aller dieser Stützen muss er in der Fremde, wo er ihrer am meisten bedürfte, entbehren. Welche Gefahren! Wie viele haben die Kraft, ihnen zu widerstehen?

Die genannten Gefahren werden aber noch erhöht durch eine dritte minder große und nicht minder begründete, nämlich die Gefahr der Irrreligiosität und der Gleichgültigkeit in der Religion. Nur selten findet der katholische Arbeiter – und, ein sehr beträchtlicher Teil derselben ist eben katholisch [1]) – in jenen fremden Ländern, wo er Monate lang arbeitend weilt, Gelegenheit, dem Gottesdienste seines Bekenntnisses beizuwohnen. In Holland, wo dieses noch am häufigsten der Fall ist, bietet die Unbekanntschaft mit der Landessprache ein Hindernis, die Predigten zu hören und Hilfe in den religiösen Bedürfnissen nachzusuchen. Welche Nachteile, wie viele und wie große sittliche Gefahren birgt allein dieser Umstand in sich, insbesondere wenn man dazu nimmt, dass der Unglaube und die religiöse Gleichgültigkeit in diesen Gegenden so groß sind, dass manche der Arbeitgeber vollständige Indifferentisten sind, dass in Holstein, Dänemark, Mecklenburg auch jetzt noch, wie seit Einführung der Reformation, die katholische Kirche von einengenden Fesseln umschlungen ist! Wenn der Sonntag aber nicht der gottesdienstlichen Feier, nicht der Ruhe in Gott dient, wie wird er dann gewöhnlich verbracht da, wo eine Anzahl junger Leute zusammen lebt, wo die Langeweile quält, der Eine den Andern treibt, wo böse Beispiele ihre Zugkraft üben? Gleichgültigkeit und häufig selbst Irreligiosität sind die fast unausbleiblichen Folgen, und wenn dieselben nicht so oft so entschieden hervortreten, als man erwarten müsste, so ist das eben ein Beweis für den tiefreligiösen Sinn, welcher in unserm Landvolke heimisch ist.

Wenn man aber dieses Alles in Erwägung zieht, so kann gewiss nicht geleugnet werden, dass das Hollandsgehen mit vielen und großen sittlichen Gefahren und Nachteilen verbunden ist. Man fragt, ob sich dieses auch in den Gemeinden, welche die Hollandsgänger liefern, offenbare? Ob dieselben wirklich sittlich verkommener seien, als andere?

Kann einmal ein solcher Vergleich kein richtiges Ergebnis liefern, weil überall die Umstände und einwirkenden Verhältnisse verschieden sind, so ist doch soviel gewiss, dass die Gefahr unleugbar vorliegt, dass das Saufen der reisenden Arbeiter, insbesondere auf der Rückkehr oft sehr arg ist, dass öfteren Berichten zufolge entsetzliche Rohheiten an den Haltestellen der Eisenbahnen von dem unsittlichen Zustande der Arbeiter Zeugnis ablegen, dass mancher Hollandsgänger sich in kirchlicher Beziehung viel gleichgültiger zeigt, als erwartet werden dürfte, dass in einzelnen Gemeinden manche der jüngeren Leute an den Sonntagen die Wirtshäuser kaum verlassen und den Tag des Herrn mit Spielen, Saufen, Tanzlustbarkeiten und wildem Umhertreiben in leichtfertiger Gesellschaft zubringen, dass mancher redliche und wohl erfahrene Pfarrer das Hollandsgehen als den Krebsschaden seiner Gemeinde erkennt.

Außerdem ist es gewiss und wohl zu beherzigen, dass während der letzten Jahrzehnte sich manche Verhältnisse außerordentlich geändert und unsern Landsleuten in der Fremde die gefahren noch näher gerückt haben, dass auch an unsern schlichten, kerngesunden, einfachen und braven westfälischen Landmann der moderne böse Geist der Zersetzung herangetreten ist, um ihn mit den verderblichen Ideen der Neuzeit bekannt zu machen, sowie, dass leider hier und da die ausgeworfenen Funken zu zünden anfangen, dass die alte Einfachheit der Sitten und des Gemüts mit dem Gefühle der Ehrfurcht und Ehrerbietigkeit vor geistlichen und weltlichen Vorgesetzten, vor dem alten Herkommen, alten Einrichtungen und Gewohnheiten mehr und mehr verschwindet, dass auch die herrliche Sittenreinheit und tiefe Religiosität, welche unser Landvolk mehrenteils schmücken, mit der Zeit Schiffbruch zu leiden drohen, dass Luxus und Genusssucht, die charakteristischen Fehler unserer Zeit, sich mehr und mehr auch unter diesem Stande verbreiten. Welchen Einfluss auf Alles dieses der Aufenthalt in der Fremde gehabt hat und wie er noch jetzt das Übel verstärken wird, ist leicht einzusehen. Insbesondere ist dabei auch das veränderte Reiseziel in Anschlag zu bringen.

In Holland treffen die Arbeiter mit Ausnahme der großen Handelsmetropolen ein Volk, das sich in Sitten und Lebensweise von uns nicht allzu sehr unterscheidet, einfach, abgeschlossen, ernst und im Ganzen bieder und ehrlich; unsere katholischen Landsleute finden da vielerorts auch Gelegenheit, katholischen Gottesdienst zu besuchen, wenngleich die oben bezeichneten Unzuträglichkeiten bestehen. Ganz anders und viel ungünstiger sind aber die Verhältnisse an den Arbeitsstationen in den Herzogtümern und in den Preußischen Ostprovinzen, wie die Arbeiter selbst zugeben. Es haben sich also durch Veränderung des Reiseziels die sittlichen Gefahren wesentlich vergrößert.

[1] Solche, welche mit den Verhältnissen näher bekannt sind, wollen behaupten, dass im Fürstentume Osnabrück vorzugsweise viele, ja fast ausschließlich Katholiken sich bei der Arbeiterwanderung beteiligen. Pastor Kerle, welcher die Verhältnisse genau kennen kann, da er viele Jahre lang im Amte Bersenbrück tätig war, schreibt darüber: „Aus Bauerschaften mit gemischter Bevölkerung ziehen oft fast sämtliche katholische Heuerleute ins Ausland, während von den dortigen Akatholiken kaum einer fortgeht.“ Woher diese Erscheinung?