Die nachfolgende Rezension – erschienen im Emsland – Jahrbuch 2016 – stammt aus der Feder von Dr. Ludwig Remling.
Dr. Remling war bis zu seiner Pensionierung als Stadtarchivar in Lingen tätig. Er ist auch weiterhin in der Region als Historiker ein gefragter Mann.
Bernd Robben u. Helmut Lensing: „Wenn der Bauer pfeift, dann müssen die Heuerleute kommen!“ Betrachtungen und Forschungen zum Heuerlingswesen in Nordwestdeutschland. Haselünne 2014, 288 S., ISBN 978-3-9814041-9-7 24,90 €
Das Heuerlingswesen war über 400 Jahre ein prägender Bestandteil des landwirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens in Nordwestdeutschland. Es entstand aus dem Anerbenrecht, bei dem im Gegensatz zur Realteilung nur eines der Kinder als Hoferbe in Frage kam. Den von der Erbfolge ausgeschlossenen Söhnen sowie deren Nachkommen bot es die Möglichkeit eine Familie zu gründen und gewährleistete den Höfen für die arbeitsintensiven Zeiten die nötigen Arbeitskräfte. Hervorgegangen ist es wahrscheinlich aus dem verwandtschaftlichen Verhältnis gegenseitiger Hilfe, in deren Rahmen der Bauer dem vom Hof abgehenden nicht erbberechtigten Bruder eine Unterkunft und Pachtland zur Verfügung stellte und dieser dafür einen Pachtzins und verschiedene Arbeiten zu erbringen hatte. Die diesem System der gegenseitigen Hilfeleistung innewohnende Abhängigkeit der wirtschaftlich schwächeren Heuerleute vom Verpächter trat im Laufe der Zeit immer deutlicher zu Tage und gab der Landwirtschaft in Nordwestdeutschland ihr besonderes Gepräge. Den alten Höfen mit ihren umfangreichen Ländereien und Markberechtigungen stand eine stetig zunehmende Zahl von kleinen unselbständigen Bauernstellen ohne oder mit nur wenig Grundbesitz und geringerem sozialen Status gegenüber.
Welche Ausprägungen das Heuerlingswesen in den verschiedenen Regionen Nordwestdeutschlands erfuhr, wie es sich im Laufe der Jahrhunderte entwickelte und schließlich in den Jahrzehnten nach dem 2. Weltkrieg unterging, vor allem aber wie sich die Abhängigkeit der Heuerleute von ihrem Verpächter und die unsichere wirtschaftliche Basis der Heuerstellen im alltäglichen Lebens eines Großteils der ländlichen Bevölkerung auswirkten, das sind die Fragen, denen die beiden Autoren in insgesamt 21 Kapiteln nachgehen und auf die sie in ihren detaillierten Ausführungen gut fundierte Antworten geben.
Wegen der geringen Ausstattung der Heuerstellen mit Grundstücken waren die Heuerleute stets bemüht, ihre schlechte wirtschaftliche Situation durch Nebenerwerb zu verbessern. Möglichkeiten boten Bienenzucht, Schafhaltung und Textilherstellung oder das zeitweilige Verlassen der Heimat als Saisonarbeiter
in den Niederlanden (Grasmäher, Torfarbeiter, Walfang) bzw. als Wanderhändler (Tödden). In all diesen Erwerbsbereichen waren die Heuerleute besonders stark vertreten. Doch nur die wenigsten Heuerleute schafften es, ihren sozialen Status durch solche Nebenerwerbstätigkeiten zu verbessern. Aus der Abhängigkeit der Verpächter konnten sich im 18. Jahrhundert nur diejenigen befreien, denen es gelang, in den Niederlanden sesshaft zu werden oder eine Siedlerstelle im Moor zu erwerben.
Neben der schlechten wirtschaftlichen Situation war vor allem der geringe rechtliche und soziale Status der Heuerleute gegenüber den Hofbesitzern kennzeichnend für das Heuerlingswesen. Der Bauer saß am längeren Hebel, vor allem da die Pachtverhältnisse bis weit ins 20. Jahrhundert meist nicht schriftlich fixiert waren. Er konnte die Arbeitsverpflichtungen kurzfristig ansetzen und ungehindert vergrößern, außerdem hatten die Arbeiten auf dem Hof immer Vorrang. Die soziale Distanz zeigte sich in der Gaststätte, bei den Schützenfesten und bei Heiraten. Es kam zwar nicht selten vor, dass der Bauer die Patenschaft bei Heuerlingskindern übernahm, aber nicht umgekehrt.
Die großen Umwälzungen im 19. Jahrhundert brachten für die Heuerleute in vieler Hinsicht eine Verschlechterung ihrer Lage. Die Bauernbefreiung erhöhte den Kapitalbedarf der Bauern, was zu einer Erhöhung des Pachtzinses und zu geringerer Vergütung von Arbeitsleistungen führte. Bei der Markenteilung verloren die Heuerleuteihre ihre geringen Nutzungsrechte an der gemeinen Mark. Die Viehhaltung musste eingeschränkt werden. Missernten führten zu Hungersnöten. Die soziale Distanz zwischen Hofbesitzern und Heuerleuten wuchs. Die Heuerleute blieben, da ohne Besitz, von jeglicher politischen Teilhabe ausgeschlossen. Die Bauern fühlten sich, nachdem sie sich freigekauft hatten, gegenüber den Heuerleuten als Herren wie früher der Adel, zudem orientierten sich die großbäuerlichen Familien in ihrer Lebensführung zunehmend an städtischen Normen.
Die Verbesserung der Verkehrsverhältnisse durch den Kanal- und Eisenbahnbau, die beginnende Industrialisierung in den Städten und die Verbesserung der Ernteerträge durch den Einsatz von Kunstdünger brachten für die Heuerleute manche wirtschaftlichen Verbesserungen mit sich. Heuerleute konnten zusätzliche Flächen erwerben, als die Bauern nach der Markenteilung abgelegene Grundstücke verkauften, sie schufen sich zusätzliche Einnahmen durch intensive Schweinemast und den Fang von Krammetsvögeln oder Wildenten, sie übten Nebentätigkeiten wie Milchfahrer, Schlachter, Holzschuhmacher und Zimmerer aus, weil sie sich dafür keine Werkstatt einrichten mussten.
Obwohl dich die Heuerleute den neuen Herausforderungen im 19. Jahrhundert mit viel Kreativität und Anpassungsfähigkeit stellten, war ihr Unzufriedenheit mit den als ungerecht empfundenen rechtlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen so groß, dass viele die Möglichkeit zur Auswanderung in die Vereinigten Staaten nutzten. Die Auswanderungswelle nahm solche Ausmaße an, dass sich in manchen Gemeinden die Zahl der Heuerleute deutlich verringerte.
Neben diesen großen Entwicklungslinien des Heuerlingswesens widmen die Autoren ihre Aufmerksamkeit den Wohnverhältnissen der Heuerleute in ihren kargen Behausungen, der Rolle der Heuerlingsfrau und ihrer immensen Arbeitsbelastung und den gesundheitlichen Belastungen, denen gerade die Heuerleute ausgesetzt waren. Entscheidende Verbesserungen in der rechtlichen Situation der Heuerleute brachte erst die Weimarer Republik. Die Pachtverträge mussten schriftlich fixiert werden, die Heuerleute erlangten politische Rechte und konnten sich Standesvertretungen aufbauen. Durch die Nationalsozialisten wurden diese Erfolge jedoch weitgehend wieder rückgängig gemacht. Bereits im ersten Nachkriegsjahrzehnt gelangen Heuerleuten dann die lange ersehnten grundsätzlichen Verbesserungen ihrer rechtlichen Stellung. Zudem entstanden zahlreiche neue Siedlerstellen. Doch infolge des Wirtschaftswunders der 1950er-Jahre verschwand das Heuerlingswesen schon bald darauf innerhalb eines Jahrzehnts.
Die beiden Autoren betonen einleitend, dass sie mit ihrem Buch Interesse wecken wollen an den Lebensverhältnissen einer sozialen Schicht, der über Generationen die Mehrheit der Bevölkerung im ländlichen Nordwestdeutschland angehörte. Wie die Verkaufszahlen zeigen, haben die Autoren dieses Ziel mehr als erreicht. Sie bieten für die Zeit bis zum 1. Weltkrieg auf der Grundlage zahlreicher lokaler und regionaler Publikationen einen umfassenden und zugleich differenzierten Überblick über das Heuerlingswesen; für die Zeit von 1919 bis in die 1960er-Jahre bietet das Buch dank umfangreicher Recherchen neue Forschungsergebnisse. Wer sich über das Heuerlingswesen in Nordwestdeutschland informieren will oder wer wissen will, wer sich in den letzten zwei Jahrhunderten mit diesem Thema befasst hat, der greift mit Gewinn zu diesem Buch. Für den interessierten Leser steht seit kurzem die 3. überarbeitete und ergänzte Auflage zur Verfügung. In ihr sind vor allem die abschließenden Kapitel, die sich mit der Zeit nach 1918 beschäftigen, deutlich erweitert worden. Ein Orts- und ein Personenregister erleichtern das Nachschlagen in dem umfangreichen Werk.
Ludwig Remling