Ödlandsiedlung als Streitpunkt

Neben dem Pachtschutz wurde bald die Ödlandsiedlung der große Streitpunkt zwischen Heuerlingen und Landwirten. Die Heuerleute und Knechte wollten einen sozialen Aufstieg zum selbstständigen Landwirt durch die Siedlung auf den großen Ödländereien der Region erreichen. Da die Landwirte mit ihren bescheidenen Eigenmitteln die großflächige Urbarmachung nicht leisten konnten und folglich mit ihrem Projekt einer „Siedlung vom Hofe“, die von ihren Standesorganisationen favorisiert wurde, nur geringe Flächen zu kultivieren vermochten, forderten die Heuerleute den massiven Einsatz des Staates. Der Staat sollte großflächig Ödland urbar machen und dazu notfalls Landwirte gegen Entschädigung enteignen. Dagegen wehrten sie sich heftig. Um diese wie weitere Forderungen besser durchsetzen zu können, schlossen sich mehrere Heuerleute- und Kleinbauernorganisationen am 25. Juni 1922 in Hannover zum „Reichsverband landwirtschaftlicher Klein- und Mittelbetriebe“ zusammen, darunter der VCH und sein Verbündeter, der „Nordwestdeutsche Heuerlings-Verband“. Zum Geschäftsführer bestimmte der neue Verband auf Vorschlag Heinrich Kuhrs den Kulturingenieur Heinrich Lübke (1894-1972)[i], den späteren Bundespräsidenten[ii].

 

Die zunehmenden Kündigungen von Heuerstellen beschäftigten sogar im Juli 1921 den Preußischen Landtag. Der SPD-Abgeordnete und Gewerkschaftssekretär Walter Bubert (1886-1950) aus Osnabrück zitierte in seiner Rede ein Schreiben des Verpächterverbandes an seine Mitglieder, in dem dazu aufgefordert wurde, die Pachtverhältnisse zu kündigen, um höhere Preise nehmen zu können. Dabei warf er dem Verpächterverband vor, nicht nur möglichst viel Geld und Arbeitsleistung von den Heuerleuten herauspressen, sondern vor allem „mißliebige Elemente“ aus dem Pachtvertrag herausdrängen zu wollen, vornehmlich also Aktivisten der Heuerleuteorganisationen. Insbesondere griff Bubert den Fürsten von Bentheim deswegen an[iii]. Ein Regierungsvertreter antwortete auf die SPD-Vorwürfe und behauptete, soweit bekannt seien Verpächtervereinigungen im Regierungsbezirk Osnabrück nicht gegründet worden. Ebenso lägen über Massenkündigungen von Heuerverträgen keine Erkenntnisse vor. Ministerialdirektor Articus wies darauf hin, dass Preußen die Pachtschutzordnung auch auf die Heuerverträge ausgedehnt habe und sie deshalb vor plötzlichen „Kündigungen und ungerechtfertigte(n) Erhöhungen ihrer Leistungen geschützt“ seien[iv]. Der regionale DVP-Abgeordnete Ernst Stendel (1879-1951), ein Jurist aus Leer, ging sogar noch weiter. Nachdem er den Fürsten von Bentheim als höchst sozialen Mann dargestellt hatte, der sehr geringe Pachtsätze nehme, erklärte er, die fürstlichen Pächter seien überhaupt keine Heuerleute, selbst wenn sie zum Forstdienst oder ähnlichen Leistungen verpflichtet seien. Dazu sei ihr Pachtland viel zu groß. Er verstieg sich sogar zu der unwidersprochenen Behauptung: „Sie können mit der Laterne suchen, wenn Sie Heuerlingsverhältnisse in der Ober- und Niedergrafschaft Bentheim finden wollen; soweit ich unterrichtet bin, kennt man dort das Heuerlingswesen nicht[v]. Dies illustriert, wie wenig bekannt das Heuerlingswesen und die Verhältnisse der Heuerleute außerhalb Nordwestdeutschlands waren, so dass widerspruchslos mit faustdicken Tatsachenverdrehungen gearbeitet werden konnte.

Heinrich Kuhr forderte noch 1929 eine zeitlich unbegrenzte Pachtschutzordnung u.a. deshalb, damit die Bauern ihren Heuerleuten nicht wegen deren kommunalpolitischen oder verbandlichen Engagements plötzlich die Heuer kündigen konnten. Dies war immer noch nötig, wie die Wahlen zur Landwirtschaftkammer vom Februar 1927 gezeigt hatten. Zwar vermochte der VCH seinen Vorsitzenden Kuhr durchzubringen, doch war die Stimmenzahl für den Heuerleutekandidaten erstaunlich gering. Die sozialdemokratische „Freie Presse“ aus Osnabrück begründete dies mit der Tatsache, dass sich die Heuerleute in der Region – nicht zuletzt aus wirtschaftlichem Druck – wenig an der Wahl beteiligt und z.T. sogar für die gegnerische EBV-Liste votiert hätten[vi].

 

Die VCH-Vertreter engagierten sich in Berlin sehr für die Belange ihrer Mitglieder und bemühten sich, die betreffenden Behörden und Ministerien über die Verhältnisse in der Region und die Besonderheiten des nordwestdeutschen Heuerlingswesens aufzuklären. Das Reichsarbeitsministerium, das für die Pachtschutzordnung zuständig war, geriet deshalb besonders in die Schusslinie des Verpächterverbandes. So beklagte sich der Verpächterverbands-Vorsitzende Eduard zur Horst in einer Rede zur Geschichte des Pachtschutzgesetzes: „Mit der Revolution war die Macht in die Hände der Besitzlosen übergegangen und deren Tätigkeit richtete sich vornehmlich gegen Besitz und Eigentum. Naturgemäss suchte sie deshalb auch die Pächter und namentlich die Heuerleute zu sich hinüber zu ziehen, indem sie den Gegensatz zum Besitz in den Vordergrund stellte … Bei der Vorbereitung der Pachtschutzordnung haben unsere Gegner, die sich mittlerweile in den Heuerleute-Verbänden organisiert hatten, massgebend mitgewirkt. Ihre Führer, Helling und Deters, gingen im Reichsarbeitsministerium, das in der Angelegenheit federführend war, ein und aus[vii]. Über seine Verhandlungen im Reichsarbeitsministerium sowie über seinen Auftritt als Sachverständiger vor dem Reichswirtschaftsrat erstattete Geschäftsführer Deters den Mitgliedern Bericht, so im Juni 1922 im Bentheimer Land auf einer VCH-Versammlung zum Pachtschutz[viii]. Daneben vergaß der Verband aber nicht den Einsatz für die ländlichen Dienstboten und „kleinen Leute“. So veranstaltete er etwa im Frühjahr 1922 in Lingen eine Versammlung mit einem bekannten Bodenreformer, um die Eigenheimbildung dieser Schichten voranzutreiben[ix]. Dabei sollte vor allem das Ödland am Stadtrand für die Siedlung freigegeben werden[x].

[i] Lingen´sches Wochenblatt Nr. 73 vom 27.06.1922.

[ii] Kuhr (wie Anm. 4), S. 68.

[iii] Stenographische Berichte der Verhandlungen des Preußischen Landtags. 1. Wahlperiode, 1. Tagung 1921. Bd. 2,2, Berlin 1921 (weiterhin Stenographische Berichte), S. 2308-2310.

[iv] Ebd., S. 2315.

[v] Ebd., S. 2379-2380. In seiner Replik betonte Bubert vornehmlich die große wirtschaftliche Not der Heuerleute und deren Abhängigkeit von den Landwirten (Ebd., S. 2379-2380).

[vi] Heinrich Kuhr, Ist das Heuerlingswesen dem Untergang geweiht II?, in: LVB Nr. 10 vom 12.01.1929 (weiterhin Kuhr, Untergang), Freie Presse, Osnabrück, Nr. 2126 vom 22.03.1927.

[vii] StALIN Dep 3 Haus Beversundern Nr. 120: Die Pachtschutzordnung. Vortrag des Verbandsvorsitzenden Ed. zur Horst, Epe (wohl von 1925).

[viii] ZuA Nr. 86 vom 09.06.1922.

[ix] LVB Nr. 20 vom 11.03.1922.

[x] LVB Nr. 26 vom 29.03.1922. Im folgenden Jahr lud der VCH mit anderen Verbänden den Bodenreformer Adolf Damaschke nach Lingen ein, nach dem schließlich eine Siedlung in der Emsstadt benannt wurde (LVB Nr. 86 vom 27.10.1923, LVB Nr. 88 vom 03.11.1923).