Konflikt eskaliert

1924 eskalierte der Konflikt zwischen Bauern und Heuerleuten. Die Heuerlinge drangen mit Macht auf eine Freigabe der Ödländereien zu Siedlungszwecken und einem entsprechenden Einsatz des Staates. Die Bauern – und hier vornehmlich der Verpächterverband – bekämpften diese Forderung mit Nachdruck. Nachdem die Heuerleute 1921 bei der Provinziallandtagswahl dem Zentrum bereits empfindliche Verluste beigebracht hatten, sorgte die Parteiführung zur Reichstagswahl vom Mai 1924 für die Nominierung des Arbeitsministers Dr. Heinrich Brauns (1868-1939) auf die vakante Spitzenkandidatur im Wahlkreis Weser-Ems. Der Geistliche hatte lange Jahre den „Volksverein für das katholische Deutschland“ geleitet, der im Emsland bereits im Kaiserreich stark verankert gewesen war. Als Vorsitzender des Volksvereins lernte Brauns die Region und ihre Probleme bei Besuchen emsländischer Ortsgruppen kennen. Zahlreiche Bauern lehnten die Kandidatur des Sozialpolitikers, unterstützt von der DNVP, ab, da er – so die Osnabrücker Ausgabe des hannoverschen DNVP-Parteiblatts „Niederdeutsche Zeitung“ – gegen den Willen der örtlichen Partei auf Diktat der Reichsleitung aufgestellt worden sei, ganz einseitig auf seiten der Heuerleute und Pächter stehe und die Ödlandenteignung unterstütze[i]. Weiterhin wurde Brauns, der wegweisende Sozialreformen auch für die Knechte und Mägde durchsetzte, als nicht wählbar für die Landwirte bezeichnet[ii].

Weitere Unzufriedenheit

Trotzdem – die Heuerleute waren unzufrieden mit ihrer Lage und sahen ihren Wunsch nach Siedlung durch die Ödlandkultivierung allein durch einen neuen Zentrumskandidaten nicht genügend unterstützt. Daraufhin fasste ihr Verband einen folgenschweren Beschluss. Der Vorstand entschied, zur anstehenden Reichstagswahl eine Linksabsplitterung der Zentrumspartei zu unterstützten, die sich in Westfalen und im Ruhrgebiet gebildet hatte. Diese „Christlich-Soziale Volksgemeinschaft“ (CSVG) trat zur Reichstagswahl von 1924 in zehn Wahlkreisen an, darunter auch im Wahlkreis Weser-Ems. Die emsländische Zentrumsabsplitterung von 1920, die „Christlich-Soziale Volkspartei“, die 1921 zwei Mandate für christliche Gewerkschafter im Lingener Kreistag errungen hatte, schloss sich dieser neuen Partei an.

Josef Deters, bekanntlich schon Provinziallandtagsmitglied, wurde auf Platz 2 der Wahlkreisliste Weser-Ems der CSVG nominiert. Spitzenkandidat war der aus Lingen stammende und in Hannover wohnende Ingenieur Hans Elberg[iii]. Die regionale Presse berichtete wenig von der Partei. Allerdings veröffentlichte sie regelmäßig Artikel, dass regionale Zentrumsführer, insbesondere Dr. Stuke, der viel Sympathie für die Anliegen der Heuerleute zeigte, bei Aussprachen in den emsländischen Dörfern zahlreiche Heuerleute und Unzufriedene wieder zur Partei zurückgeführt hätten oder dass in anderen Regionen CSVG-Gruppen zum Zentrum zurückgekehrt seien[iv]. Obwohl die CSVG keinerlei Presseunterstützung im Emsland erhielt und auch noch keine Organisationsstruktur aufgebaut hatte, wurde sie dennoch zweitstärkste Partei des Emslands und zog in vielen Kommunalparlamenten ein. Während in Meppen und Lingen christliche Gewerkschafter die Partei trugen, sorgte der VCH auf dem Lande für eine Propagierung der Christlich-Sozialen.

 

Tab. 3: Die regionalen Wahlergebnisse der Christlich-Sozialen Volksgemeinschaft im Mai 1924[v]

 

 

Gebiet Aschendorf Hümmling Lingen Meppen Bentheim
CSVG 1152 1375 3830 3429 1041
in Prozent 9,8% 13,0% 19,2% 25,0% 5,5%

 

Gebiet Bersenbrück Emsland* Weser-Ems
CSVG 1289 9786 18.190
in Prozent 4,9% 17,5% 2,8%

*ohne Grafschaft Bentheim

 

Das Zentrum war im Emsland von den 83,2%, die es 1920 erzielt hatte, auf 68,0% zurückgefallen. Die Hauptmasse der Verluste ging an die CSVG, doch hatten die großbäuerliche DNVP sowie die gegen Preußen kämpfende „Deutsch-Hannoversche Partei“ ihm gleichfalls Wähler abspenstig gemacht. Die CSVG drängte in nicht wenigen emsländischen Dörfern sogar die Zentrumspartei zum ersten Mal in ihrer Geschichte unter 50%. In einigen Orten votierte mehr als die Hälfte aller Urnengänger für die Partei der organisierten Heuerleute.

 

Tab. 4: Die emsländischen Hochburgen der Christlich-Sozialen Volkgemeinschaft[vi]

CSVG                        Zentrum

Groß Dohren                          62,9%             26,5%

Flechum                                 58,1%             35,8%

Bramhar/Meppen                   54,0%             46,0%

Gersten                                   53,4%             25,0%

Lähden                                   51,9%             45,5%

Andervenne-Oberdorf           51,2%             31,8%

 

Selbst in einigen protestantischen Grafschafter Gemeinden errang die linkskatholische Partei aufgrund des Einsatzes des Heuerleuteverbandes bedeutende Stimmenzahlen. Die Hochburg der CSVG im Bentheimer Land war das protestantische Georgsdorf (53,1%), wo viele fürstliche Heuerleute wohnten, gefolgt von Bimolten, dem Wohnort des Grafschafter VCH-Kreisvorsitzenden Schnieders. Mit 45,8% wurde sie hier ebenfalls stärkste Partei. Beachtliche Resultate erzielte die CSVG ferner in der Alten Piccardie (24,5%), in Brandlecht-Gut (26,7%), Frenswegen (26,9%), Hestrup (23,3%), Hohenkörben-Veldhausen (29,6%) und im katholischen Wietmarschen (27,2%)[vii]. Im Westen des Kreises Bersenbrück, in dem viele katholische Heuerleute lebten, konnte die CSVG dem Zentrum ebenfalls empfindliche Verluste zufügen, so in Grafeld (Zentrum 48,2%, CSVG 43,3%), Hollenstede (CSVG 49,5%, Zentrum 40,1%) oder Höckel (CSVG 50,5%, Zentrum 37,0%). Wie in der Grafschaft Bentheim reüssierte die Partei der Heuerleute gleichfalls in einigen wenigen evangelischen Ortschaften des Kreises Bersenbrück, beispielsweise in Ohrtermersch (50,7%)[viii]. In keinem Wahlkreis des Reiches entfielen jedoch die erforderlichen 60.000 Grundstimmen auf die Christlich-Sozialen, so dass sie mit ihren 124.451 Wählern keinen Reichstagsabgeordneten stellten, ihr Antreten das Zentrum jedoch zwei Mandate kostete.

[i] Niederdeutsche Zeitung. Ausgabe Osnabrück. Nationales Tageblatt für Nordwestdeutschland (weiterhin NDZ) Nr. 31 vom 24.04.1924. Brauns war als Arbeitsminister u.a. für die von den Bauern abgelehnte Pachtschutzordnung zuständig.

[ii] NDZ Nr. 26 vom 15.04.1924.

[iii] KVB Nr. 34 vom 30.04.1924. Siehe dazu auch: Die Volksgemeinschaft. Mitteilungsblatt der Christlich-Sozialen Volksgemeinschaft. Tageszeitung für Westfalen und Rheinland, Dortmund (weiterhin VG), Nr. 2 vom 03.04.1924. Deters kam zugleich auf Platz 7 der Wahlkreisliste in Osthannover (VG Nr. 17 vom 23.04.1924).

[iv] LVB Nr. 36 vom 03.05.1924 (hier: Einigung zwischen CSVG und Zentrum in Groß Hesepe, Christlich-Soziale in Höxter kehren zum Zentrum zurück).

[v] Eigene Berechnungen aus: Statistik des Deutschen Reichs Bd. 315,II, 2. Heft, 2. Teil, Berlin 1925, S. II.29 (weiterhin StDR Bd. 315) und Zeitungsberichten.

[vi] Eigene Berechnungen aus: LVB Nr. 37 vom 06.05.1924, Staatsarchiv Osnabrück (weiterhin StAOS) Rep 450 Mep I L.A. Meppen Nr. 7 und Rep 450 Bent I L.A. Bentheim Nr. 39 sowie Hamacher (wie Anm. 46), S. 172, für Lähden.

[vii] Eigene Berechnungen aus: StAOS Rep 450 Bent I L.A. Bentheim Nr. 39. Die Wahlerfolge der CSVG im Emsland waren weit bedeutender als in den bislang als ihre Hochburgen geltenden Städte im Ruhrgebiet und in Westfalen. So errang die CSVG im gesamten Ruhrgebiet 2,4%, wobei sie in Bottrop (9,4%), Osterfeld (9,0%) und Buer (7,0%) ihre besten Ergebnisse erzielte, also beträchtlich weniger als in einer Vielzahl emsländischer Dörfer. Selbst in den emsländischen Städten waren ihre Wahlresultate infolge der Unterstützung christlicher Gewerkschafter wesentlich besser. In Freren gewann die CSVG 21,8%, in Haselünne 17,4%, in Meppen 15,9%, in Lingen 13,2% und in Aschendorf 20,9%. Aufgrund der weit höheren Einwohnerzahlen verzeichnete die CSVG allerdings im Ruhrgebiet in absoluten Zahlen deutlich mehr Stimmen als im Emsland.

[viii] Bramscher Nachrichten Nr. 289 vom 08.12.1924 (mit Vergleich der Ergebnisse zur Maiwahl), zu dieser Wahl siehe auch: Bersenbrücker Zeitung Nr. 36 vom 06.05.1924. Zu den Wahlen im Kreis Bersenbrück: Norbert Wefer, Der Aufstieg der NSDAP im Kreise Bersenbrück. Wahlen und Analysen 1919-1933, Alfhausen-Thiene o.J., S. 61. Wefer kennt die CSVG und ihre Hintergründe nicht und bezeichnet sie darum unkorrekt als Vorläuferpartei des späteren streng evangelischen „Christlich-Sozialen Volksdienstes“ (S. 47). Das Gesamtergebnis der Partei ist in der Presse anscheinend nicht korrekt wiedergegeben, da sie für die CSVG 1390 Stimmen ausweist (= 5,2%), in der StDR Bd. 315 (wie Anm. 66), S. II.29, aber nur 1338 Voten für Splitterparteien genannt werden. Von diesen Stimmen müssen noch die 49 Stimmen für Kleinparteien, die diese laut Presse erhalten haben, abgezogen werden, so dass die CSVG wohl lediglich auf 1289 Wähler kommt.