Das „Inhaus“ in Niederbayern – vergleichbar mit einem „Heuerhaus“?

Inhaus aus Auenzell, Landkreis Straubing-Bogen

 

Hier handelt es sich um ein Wohnstallhaus für 2 Kühe, 1-2 Kälber und 1 Schwein.

 

 

Der Begriff Inhaus ist im Bayerischen Wald die Bezeichnung für ein Gebäude, das als Austragshaus (Altenteilwohnung) oder Mietshaus für die bäuerliche Unterschichten (Landlose) genutzt wurde.

1780 errichtete sich Walburga Pätzl ein Austragshaus am Ortsrand von Auenzell.

1807 wurde es im Besitz von Familie Schambeck erstmals renoviert und diente seitdem als Inhaus.

1983 erwarb der Bezirk Oberpfalz das Haus für das Oberpfälzer Freilandmuseum, wo es 1985/86 wiedererrichtet wurde.

 

 

Dieses Inhaus zeigt in der Rekonstruktion und in der weitgehend originalen Einrichtung den Zustand von 1955-1962.

Das Scheunentor ist nach Baubefund rekonstruiert, das Aborthäuschen und der Gartenzaun sind nach archivalischen Belegen und Zeitzeugenberichten nachgestellt.

(Nach Hinweisschild im Museum)

 

 Ralf Heimrath (Hrg.) Oberpfälzer Freilichtmuseum Neusath – Perschen

        Ein Rundgang, Regensburg 1996

Hier findet sich folgende Beschreibung für diese Gebäudeart:

„Inhaus“ (in älteren Schreibungen auch _Innhaus“, jedoch ohne Bezug zum Fluß Inn) ist im Bayerischen Wald der Begriff für ein Gebäude, das als Austragshaus oder Mietshaus für bäuerliche Unterschichten ohne eigenen Grundbesitz einer Hofstelle zugeordnet ist, aber dennoch eine selb­ständige Wirtschaftseinheit mit Wohnteil, Stall, Stadel und gelegentlich auch Backofen darstellt.

Die Bewohner eines Inhauses nannte man „Inleute“ oder „In­wohner“.

Sie sind annähernd mit Unter­mietern vergleichbar und waren darüber hinaus im 19. Jahrhundert mit allen Famili­enmitgliedern von dem Bauern abhängig, zu dem das Inhaus gehörte.

Sie hatten für ihn Leistungen in Form von Arbeit und Geld zu erbringen. Der Bauer konnte nach Belieben die Inleute aufnehmen oder kün­digen.

Da ein Insasse nach acht Jahren Hei­matrecht in der Gemeinde erhielt, wurde von den Bauern meist darauf geachtet, dass das „Mietverhältnis“ vor Ablauf dieser Frist aufgekündigt wurde.

Entsprechend der sozialen Stellung im ländlichen Gemeinwesen zeigt der Grund­riß des Inhauses nur wenig Raum für relativ viele Bewohner.

Man betritt das Gebäude traufseitig und gelangt in den Fletz.

Im Ge­gensatz zur nördlichen Oberpfalz wird hier die Breite des Hauses von zwei Raumen bestimmt. So reichen der Fletz und die sich gegenüberliegenden Gebäudeteile Stube und Stall nur wenig über die Hausmitte, dann schließen sich zwei Kammern und ein dazwischen liegendes „Stuberl an, das vielleicht zu Zeiten der Baugründung als Rußkuchl gedient hat.

In der Stube be­findet sich die Herdstelle. In diesem Raum spielt sich das häusliche Leben mit Ausnah­me des Schlafen ab, über die giebelseitige Kammer kann ein Kellerraum erschlossen werden. Durch den Fletz gelangt man auch in das schon genannte Stuberl und von dort in eine weitere Kammer.

Der Stall kann vom Fletz und durch einen eigenen Zugang von der Straßen­seite her betreten werden. Er bietet nur wenig Platz. Der Stadel besteht aus einer Durchfahrtstenne und einem „Viertel“ zur Einlagerung von Heu und Stroh.

 

Fotos: Archiv Robben

„Deutsche Agrargeschichte“ von Prof. Dr. Alois Seidl – eindeutig lückenhaft

Der Besuch in Niederbayern Anfang Dezember  2018 hat nach entsprechenden Vorrecherchen und den bisherigen Auswertungen auch für diese Region belegt, dass die spezielle Geschichte der besitzlosen Landbevölkerung bisher allenfalls bruchstückhaft aufgearbeitet ist.

Schaut man sich das Standardwerk Deutsche Agrargeschichte von Prof. Dr. Alois Seidl aus dem Jahre 2013 an (2. Auflage Frankfurt 2014), dann finden sich die Inwohner  (regionale Fachbezeichnung für die Landlosen) lediglich  auf Seite 108.

Kaum vorstellbar, dass in einem über 350 Seiten starken historischen Fachbuch zur ländlichen Bevölkerung und deren Lebens- und Wirtschaftsweise etwa die Hälfte der Angehörigen allenfalls am äußersten Rande in minimalster Form  auftaucht.

In diesem Kontext kommt dem schon erwähnten Aufsatz von Dr. Helmut Bitsch Inwohner – ein verdrängtes Kapitel bayerischer Agrargeschichte –  eine besondere Bedeutung zu.

Foto: Archiv Robben

Eher Arbeiter im Steinbruch als Knecht auf einem Hof – aber Silikose im Alter

Die Beschäftigungsmöglichkeiten für abgehende Bauernkinder waren auch in Niederbayern noch bis etwa Mitte des 20. Jahrhunderts dünn gesät.

Da war der Granitabbau um Patersdorf nördlich von Deggendorf trotz schwerster körperlicher Arbeit eine willkommene Alternative zur Gründung einer Familie mit der Möglichkeit, auch ein eigenes Anwesen zu erwerben.

Allerdings zeigte sich fast durchweg die Schattenseite dieses Berufszweiges: Durch die ständige Feinstaubbelastung bei der Arbeit im Steinbruch stellte sich nahezu zwangsläufig die gefürchtete Silikose ein, die nicht selten in einem tödlichen Lungenkrebs endete.

Herbert Fuchs aus Patersdorf

hat in einer jüngst erschienenen Publikation diese wirtschaftliche Sozialgeschichte seiner Region aufgeschrieben mit engagierter Unterstützung der Lokalzeitung: Jörg Klotzek als Redaktionsleiter des Viechtacher Bayerwald – Bote hat durch Vorabdrucke einzelner Fachaufsätze von Herbert Fuchs großes Interesse an der Thematik erzeugt und so „musste“ dieses Buch erscheinen:

 

 

Herausgeber: Presse§Mehr, Medienstraße 5, 94036 Passau,

ISBN 978-3-947688-01-2

In dieser Kurzvita beschreibt H. Fuchs seine persönliche Entwicklung:

Meine Eltern stammten jeweils von einem kleinen landwirtschaftlichen Anwesen des Bayerischen Waldes, wo diese streng katholische Herkunft (Namenstage, kirchliche Feiertage, Respekt vor der Obrigkeit, Gehorsam, Aufrichtigkeit, Sparsamkeit) täglich gegenwärtig war und sich auf die Kinder übertrug.  Dann wurde diese Haltung ergänzt durch die Tatsache, dass unser geliebter Vater die schwere Arbeit im Steinbruch zu verrichten hatte und jeden Tag von weißem Staub gezeichnet nach Hause kam. Für uns reichte die Drohung: „Wenn ihr in der Schule nicht fleißig lernt, müsst ihr auch in den Steinbruch gehen!“ Dies war dann gottlob nicht der Fall und unsere Region entwickelte sich dann in den 80er und 90er Jahren sehr zügig. In uns steckte aber das anerzogene Streben nach einer guten Berufsausbildung, die wir an unsere Kinder weitergaben. Alle 10 Enkel unserer Eltern haben Abitur und sie schlossen mit Erfolg ihr Studium ab. Dies gilt auch für meine drei Kinder. Ich selber hatte damals (1954 geboren) bei uns keine Chance,  eine weiterführende Schule zu besuchen, weil diese zu weit weg waren. Auf dem zweiten Bildungsweg konnte ich aber nach einer handwerklichen Ausbildung die Beamtenfachhochschule besuchen und schaffte bei der bayerischen Polizei ein Amt in der mittleren Führungsebene.

Sein Vater bei der schweren Arbeit als Hämmerer (oben) und mit seinen Kameraden im Steinbruch (unten links)

Herbert Fuchs über seinen Vater im Nachwort des Buches Die Steinhauer

Als Sohn eines Steinhauers habe ich über Jahrzehnte sehr hautnah mitbekommen, wie mühevoll sich unser Vater sein Geld im nahen Steinbruch verdienen musste. Aus einer kinderreichen Familie musste er auch den 2. Weltkrieg noch kurze Zeit aktiv mitmachen und hatte anschließend ohne Ausbildung schlechte Berufschancen.

Er nannte seine Arbeit im Steinbruch alternativlos und war deshalb zeitlebens zufrieden.

Auch er erkrankte schwer an Silikose, durfte aber trotzdem 82 Jahre alt werden. Wir Kinder haben gut mitverfolgen dürfen, wie stolz er zeitlebens über sein erbautes und erweitertes Haus war, sich ein Auto und nach und nach weitere Annehmlichkeiten für sich und seine Familie leisten konnte. Fleiß, Aufrichtigkeit und Bescheidenheit waren seine Lebensziele, die er zu jeder Zeit erfüllte.

Leider bekamen die Steinhauer oft nicht die gesellschaftliche Anerkennung, die ihnen sicher zugestanden wäre. Wir, die Nachfolgegeneration, wissen jedoch sehr wohl um die überragende und zum Teil aufopfernde Lebensleistung unserer Ahnen und sehen sie als Vorbild und Ansporn für uns selber, aber auch als Erbe für unsere Kinder. Dazu sollen diese Ausarbeitungen einen kleinen Beitrag leisten, die gewiss keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben können.

Zur Vollständigkeit zählt aber eine großartige Auszeichnung für einen aus der Nachfolgegeneration: Georg Biermeier, Sohn einer Steinhauerfamilie aus Neumühle und Steinmetzlehrling in der „Boarischen“, später Lehrer in der Steinmetzfachschule in München, erhielt 2017 vom Bundesinnungsverband des Deutschen Steinmetz- und Steinbildhauerhandwerks die „Große Silberne Ehrennadel‘ für seine außerordentlichen Verdienste und sein herausragendes Wirken für junge Steinmetze. Seine Auszeichnung war Auslöser für diese Berichtsreihe. Das Patersdorfer Granithandwerk lebt auch durch ihn weiter.

Ein Video – Interview folgt…

Foto oben: Archiv Robben
die übrigen Fotos: Herbert Fuchs

„Kein Hüsung“ beschreibt die Not und Unterdrückung um 1850 pur

Fritz Reuter (1810–1874) gehört zu den bedeutendsten niederdeutschen Dichtern

Er  verfasste 1858 seine Verserzählung Kein Hüsung. In diesem Werk demonstriert er einen sozialkritischen Realismus, der in der Literatur zeitweise im neunzehnten Jahrhundert auftaucht wie auch bei Theodor Fontane, Gottfried Keller oder Wilhelm Raabe.

Obwohl Fritz Reuter eher als der Meister der humorvollen, plattdeutschen Literatur gilt, gelang ihm bei diesem Werk eine vorzügliche Beschreibung der damaligen Missstände im Verhältnis der Landbesitzenden zu den Landlosen im deutschen Osten. Allerdings bedauerte Reuter offenbar später seine deutliche Kritik an den vorherrschenden sozialen Verhältnissen. So schrieb er am 16. Dezember 1859 an den holländischen Stadtbibliothekar in Antwerpen, F. Mertens: „[…] und ich bin ein Tor gewesen und habe mir mit meinem politischen Gedicht Kein Hüsung das ganze Wespennest des mecklenburgischen Junkertums auf den Hals geladen.“

Aus: Antje Erdmann – Degenhardt, Weihnachten bei Fritz Reuter. Husum 2004, Seite 21

Das Jahr 1847 in Mecklenburg: Viele Jahre hat Johann dem Baron bereits als Tagelöhner gedient. Er liebt Mariken, die ein Kind von ihm erwartet, kann sie jedoch nicht heiraten, weil er kein Hüsung, also vom Baron kein Wohnrecht auf dessen Land hat. Trotz seiner Dienste verweigert ihm der Baron das Hüsung, als er erfährt, dass Mariken Johanns Frau werden soll. Mariken gesteht Johann, dass sie sich einst dem Baron verweigert hat und sie ihm seither verhasst ist. Als Mariken wiederum die Baronin um Hüsung bittet, reagiert diese empört auf Marikens voreheliche Schwangerschaft und jagt sie davon. Mariken hat Selbstmordgedanken, die Johann ihr jedoch vertreiben kann. Lieber will er mit ihr fortgehen.

 Als Marikens Vater Brand schwer erkrankt, erlaubt der Baron nicht, einen Arzt zu holen. Als eines seiner Pferde erkrankt, wird sofort nach einem Viehdoktor geschickt. Als Vater Brand stirbt, untersagt der Baron den Bauern, an seiner Beerdigung teilzunehmen, weil sie auf seinen Feldern die Rüben ernten sollen. Als Johann wenig später den Stall des Barons ausmistet, führt er wütend Selbstgespräche, in denen er sich über die Ungerechtigkeit der Welt allgemein und die des Barons speziell beklagt. Als der Baron unbemerkt hinzutritt, kommt es zur Konfrontation. Nachdem der Baron Johann mit einer Peitsche geschlagen hat, ersticht Johann den Baron mit seiner Mistgabel. Der Verwalter Oll Daniel verhilft Johann zur Flucht und versorgt ihn kurze Zeit später mit Geld und Essen. Johann flieht außer Landes und die anderen Bauern verraten ihn nicht.

 Zu Weihnachten bringt Mariken das Kind auf die Welt. Sie lebt, unterstützt von den Bauern, in ihrem Elternhaus. Als ihr mitgeteilt wird, dass sie in Kürze auf einem Nachbarhof arbeiten soll, stimmt sie zu. Sie verweigert sich erst, als sie hört, dass sie ihr Kind weggeben soll. Die Baronin, zu der Mariken in einer kalten Winternacht mit ihrem Sohn eilt, versagt ihr und ihrem „Mörderkind“ jede Hilfe. Auf dem Rückweg vom Gut bricht Mariken mit ihrem Baby im Arm am Wegesrand zusammen. Am nächsten Morgen findet Oll Daniel die tote Mariken. Ihr Kind hat überlebt.

 Zehn Jahre später kehrt Johann ins Dorf zurück. Er ist die letzten Jahre auf Wanderschaft gewesen, hat die Revolution 1848 miterlebt und die Bauern zum Aufbegehren gebracht. Er holt seinen Sohn ab, mit dem zusammen er weiterziehen will. Auch der in die Jahre gekommene Oll Daniel, der den Jungen großgezogen hat, soll mit den beiden kommen, entscheidet sich jedoch, sein Hüsung zu beanspruchen – im Himmel bei Mariken.

Zitierter Text aus

https://de.wikipedia.org/wiki/Kein_H%C3%BCsung

Foto aus Wikipedia

 

 

 

Extreme Landwirtschaft im Bayerischen Wald

Der heute 80jährige Ernst Plöchinger hat einen kleinen Hof in Mittelfirmiansreut direkt an der deutsch/tschechischen Grenze von seinen Eltern geerbt.

Der Besitz liegt in einer Höhe von 1050 m.  Deshalb kann hier kein Getreide angebaut werden, es wächst auch kein Obst. Lediglich Kartoffeln und Gras sind hier zu ernten.

 

https://www.google.de/maps/place/Mitterfirmiansreut,+94158+Philippsreut/@48.8961479,13.3582354,10z/data=!4m5!3m4!1s0x4774c1e8fe375e69:0xa1d25a6760f2850!8m2!3d48.893085!4d13.6492726

 

Geschichte einer schweigenden Klasse: „Inwohner“ in Niederbayern

Inwohner – ein verdrängtes Kapitel bayerischer Agrargeschichte

… so titelt Dr. Helmut Bitsch  seinen Aufsatz in dem Buch

                                                            

 

rund um eine Wanderausstellung in acht Freilicht- und Landwirtschaftsmuseen Süddeutschlands, erschienen 1997 in Windsheim.

Diese Veröffentlichung entstand aus der einmütigen Erkenntnis der beteiligten 12 Volkskundler und Historiker:

Die Geschichte, die Arbeitsbedingungen der ländlichen Unterschichten, der Mägde, Knechte und Landarbeiter, ist in weiten Bereichen noch immer ein Desiderat der volkskundlichen und kulturwissenschaftlichen Forschung. (Seite 6)

Parallelen zur Lebenssituation der Heuerleute werden deutlich.

Allerdings fügt Dr. Bitsch, der ehemalige Leiter des Landwirtschaftsmuseums Regen, in einem Gespräch hinzu:

 

Den „Inleuten“  wurde in der Regel jährlich das vermietete Inhaus wieder gekündigt, damit auf der einen Seite keine näheren Beziehungen zwischen den Kindern der Bauern und der Landlosen entstehen konnten, auf der anderen Seite erwuchsen so keine Ansprüche an die Armenkassen der Gemeinden. 

Das Landwirtschaftsmuseum Regen kann mit einer besonders beeindruckenden Ausstellung zur Geschichte der Landwirtschaft aufwarten.

Auch darüber fand ein Gespräch mit dem derzeitigen Leiter Roland Pongratz statt. 

Weitere Begegnungen und Video – Interviews mit interessanten Gesprächspartnern werden folgen.

Fotos: Archiv Robben

Besuch in Niederbayern

Ab 02. Dezember bin ich für eine Woche zu regionalen Recherchen zum Thema Besitzlose Landbevölkerung im deutschsprachigen Bereich in Niederbayern unterwegs gewesen, um u. a. die unterschiedlichen landwirtschaftlichen Betriebsgrößen zu untersuchen und die möglichen Wirkfaktoren dafür (wie z. B. Bodenqualitäten, historische Einflüsse, unterschiedliche Höhenlagen und mehr) zu ergründen.

Aufschlüsse dazu liefern Fachmuseen in dieser Region:

 

 Die besitzlose Landbevölkerung im deutschsprachigen Raum

Ein Anschlussprojekt zum  Buch Wenn der Bauer pfeift, müssen die Heuerleute kommen!

mit dem angedachten  (zunächst vorläufigen) Titel:

 

                                              Lieber ein Kind  verlieren als eine Kuh!

                                               Vom harten Leben unserer Vorfahren

(Eines von mehreren Belegbeispielen: Von oftmals geringer Wertschätzung auch der ehelichen Kinder zeugt die aus dem Landgericht Mitterfels überlieferte Aussage „… der Bauer sehe lieber sein Kind als sein Kalb zugrunde ge­hen“ in Niederbayrisches Landwirtschaftsmuseum, Zürich 1992, Seite 41

 

Ausgangslage:

Über 20 Jahre habe ich am Thema „Heuerleute in Nordwestdeutschland“ gearbeitet und dazu im November 2014 das Buch

                         Wenn der Bauer pfeift, dann müssen die Heuerleute kommen!

mit Dr. Helmut Lensing auf den Markt gebracht, das nun in der 10. Auflage ausverkauft ist.

Hier hat sich deutlich gezeigt: Ein bedeutender  Bevölkerungsanteil hat seine Wurzeln in der Landwirtschaft.

 

Vergleich mit anderen Regionen

Nach dem enorm hohen Interesse am bisherigen Tabuthema Heuerlingswesen habe ich „über den Tellerrand“ geschaut: Wie war die Lage der besitzlosen Landbevölkerung in anderen Teilen des deutschsprachigen Raumes?

Aus der breiten Untersuchung des Heuerlingswesens mit einer entsprechend umfangreich gesammelten Fachliteratur haben wir ja nun offenbar ein passendes Fundament für Nordwestdeutschland geschaffen, um Vergleiche mit anderen deutschsprachigen Regionen anzustellen.

 

Ein völlig überraschendes vorläufiges Ergebnis

Das Heuerlingswesen war offensichtlich – bei allen negativen Begleiterscheinungen – die beste Sozialisationsform für die Besitzlosen auf dem Lande, die bis etwa 1900 in vielen Orten die größte Bevölkerungsgruppe stellte.

Die abgehenden nordwestdeutschen Bauern- und Heuerleutekinder konnten mehrheitlich schon früh  in den letzten Jahrhunderten jeweils heiraten, weil insbesondere durch den Hollandgang  (saisonale Wanderarbeit) Geld „auf den Tisch“ kam.

 

Elementarer Unterschied

Das war das entscheidende Kriterium für die offensichtlich bessere Lage der Heuerleute im Vergleich zur besitzlosen ländlichen Bevölkerung in anderen Teilen Deutschlands, der Schweiz und Österreichs, wo in bestimmten Regionen bis zu 25 Prozent der heiratswilligen Knechte und Mägde keine Heiratsgenehmigung bekamen.

Zunächst habe ich in Ostfriesland Ausschau gehalten und dort mit älteren Gewährsleuten gesprochen. Dabei musste ich erstaunt zur Kenntnis nehmen, dass hier die Landarbeiter ein deutlich schlechteres Los als die Heuerleute zu ertragen hatten. Ähnlich war die damalige Situation in der Lüneburger Heide.

 

Bisher vernachlässigter Vergleich: Industriearbeiter – Landarbeiter

Ich habe dann versucht, entsprechende Literatur über diese Bevölkerungsgruppe zu erhalten. Dabei musste ich feststellen, dass im Vergleich zu den Berichten und Untersuchungen über die damaligen abhängig Beschäftigten in der Industrie insbesondere durch die beiden schreibgewaltigen Sozialkritiker Friedrich Engels und Karl Marx mit einer enormen Sekundärliteratur die gleichfalls sehr armen ländlichen Unterschichten verhältnismäßig wenig Aufmerksamkeit in der Wissenschaft gefunden haben.

 

Ein „schwarzes Loch“ in der deutschen Geschichtsschreibung

Das wird auch von etlichen Fachwissenschaftlern selbstkritisch so gesehen. Vor diesem Hintergrund ist bemerkenswert, dass Armut und ihre Bekämpfung in ländlichen Regionen bisher nur begrenzt die Aufmerksamkeit der Geschichtswissenschaften gefunden haben.

http://www.uni-bielefeld.de/geschichte/ak_agrargeschichte/letter/nl23www.pdf  (Stand 15. Mai 2016)

 

An anderer Stelle heißt es 1997 beispielhaft auf dem Umschlagtext zu dem Buch „Mägde – Knechte – Landarbeiter. Arbeitskräfte in der Landwirtschaft Süddeutschlands“: Über die Arbeits – und Lebensbedingungen der ländlichen Unterschicht, der Mägde, Knechte und Landarbeiter ist noch immer wenig bekannt. Dabei gab es Dienstboten früher in jedem Dorf.

 

 

Vergleichende Recherchen im deutschsprachigen Bereich

Nun bin ich seit zwei Jahren in verschiedenen Teilen Deutschlands unterwegs und interviewe ältere Menschen aus dem landwirtschaftlichen oder ländlichen Umfeld und schaue mir die Bauern(hof)museen der jeweiligen Regionen an.

Dabei erfahre ich ebenfalls  Erstaunliches: Von Schleswig-Holstein über die deutschen Ostgebiete („Ostelbien“) bis hin nach Nieder- und Oberbayern waren die Knechte, Mägde und Tagelöhner zumeist in einer solch schlechten Anstellung bei den Bauern oder Gutsherrn, dass sie finanziell nicht in der Lage waren zu heiraten.

So ist insbesondere aus den Kirchenbüchern nachzuweisen, dass in diesen Gegenden bis zu 25 Prozent der Kinder von ledigen Mägden stammten. Häufig wurden die jungen unverheirateten Frauen aus dem Dienst geworfen oder sie mussten ihr Kind in fremde Hände geben. Dafür hatten sie allerdings zu zahlen, wobei nicht selten die Höhe der Abgaben dafür ziemlich genau den Einnahmen entsprach, die sie als Magd als Monatslohn für ihre Arbeit erhielten. Sie waren also in einer aussichtslosen Situation.

 

Österrreich: Das traurige Los der Schwabenkinder

Auch aus Österreich wird in mehreren Biografien die Lage auf dem Lande so beschrieben wie oben in süddeutschen Regionen. Ein erschreckender Beweis dafür ist die Geschichte der „Schwabenkinder“, die alljährlich nach einem langen Anmarsch aus verschieden Teilen des Alpenraumes auf den „Märkten“ in Oberschwaben (Schwerpunkt Ravensburg) wie beim  Sklavenhandel unter den Bauern verschachert wurden als Billigstarbeitskräfte. Da jedoch die Not in der Heimat so groß war, konnten diese 7 bis 14jährigen Kinderarbeiter in Schwaben wenigstens satt werden. Dabei versäumten sie in den Sommermonaten die Schule…

 

Der Film und das gleichnamige Buch von Elmar Bereuter  hat ein Millionenpublikum erreicht.

https://www.youtube.com/watch?v=0IPMZoQOJBQ

 

Das Verdingwesen belastet die Schweiz bis heute

In der Schweiz war es offensichtlich ebenso. Und das war wohl die Ausgangslage für das Verdingsystem.

Insbesondere die unehelichen Kinder von Mägden und Knechten waren betroffen.

Hier hat also der Staat das „Kinderproblem“ in die Hände genommen und scheinbar in nicht wenigen Fällen gründlich versagt. Wenn man dort im Internet recherchiert und sich den Film „Der Verdingbub“ anschaut, dann kommt man dahinter, dass dieses gesellschaftliche Problem der Schweiz immer noch in den Köpfen – und nicht nur latent – vorhanden ist.

Mein vorläufiger Eindruck ist allerdings: Die Grundidee war offenbar richtig, damit „aus Gesindekindern kein Gesindel“ wurde.

Auch hier hat der „Verdingbub – Film“ mit u.a. Katja Riemann für Bekanntheit gesorgt.

 

In dem Buch „Die Fertigmacher“ hat Arthur Honegger (1924 – 2017) seine schlimmen Erlebnisse dargestellt. Er hatte damit enormen Erfolg auf dem Buchmarkt.

https://de.wikipedia.org/wiki/Arthur_Honegger_(Schriftsteller)

 

 

 

Die Belastungen der Landlosen im Gutswesen des Ostens

Der mehrfach ausgezeichnete Film  „Das weiße Band“ zeigt die Verhältnisse im deutschen Osten.

Hinter der Fassade streng gewahrter Ordnung offenbart sich das nachvollziehbare Leben in einem Dorf mit Einblick in die Abläufe auf einem Gutsbetrieb in Ostelbien vor dem ersten Weltkrieg.

Tragödien spielen sich dort ab, die durchweg ihren Hintergrund haben in der streng hierarchischen Struktur des Gutswesens im deutschen Osten.

Die Lage der besitzlosen Landbevölkerung steht zwar nicht im Vordergrund des Filmgeschehens, sie wird dennoch in ihrer menschlichen Erniedrigung klar skizziert. Somit werden verherrlichende Berichte aus Adelskreisen über das Zusammenleben deutlich konterkariert. Große Kritiker des Gutwesens wie Ernst Moritz Arndt, Fritz Reuter und Max Weber sind eher aus anderem Kontext bekannt.

Die nicht nur von mir ansonsten hoch verehrte Marion Gräfin Dönhoff hat hier deutlich „geschummelt“.  Darüber wird später berichtet.

https://www.youtube.com/watch?v=mxvQXmMrzP8

 

Die Sonderrolle der Frau

Bei den über 20 jährigen Recherchen rund um das Heuerlingswesen fiel schon eine deutliche Vernachlässigung der Beschreibung der Rolle der Frau auf. Diese Erkenntnis ist offenbar voll übertragbar auf das jetzt sehr viel größere Untersuchungsgebiet. Dort erschließen sich zunächst in der Einzelschau bestimmter Themen bisher ungeahnte Unmenschlichkeiten, die in der Gesamtbetrachtung für uns heute nahezu unvorstellbar sind.

Hier hat der Film „Die Hebamme“ für Aufsehen zu einem weiteren Tabuthema gesorgt.

 

Anna Wimschneider war als Besitzende in einer „vergleichsweise günstigen“ Lage

Als Wegbereiter der Thematik des Schicksals der Landbevölkerung kann sicherlich das Buch und der Film „Herbstmilch“ von Anna Wimschneider gelten.

Hierzu heißt es bei Wikipedia:

Dieser in einfacher Erzählsprache verfasste Bericht über die Lebensgeschichte einer bis dahin unbekannten Person wurde zu einem der größten Erfolge in der Geschichte des deutschen Buchhandels. Die Autobiographie war über drei Jahre in den Bestsellerlisten.

Dabei muss festgestellt werden, dass Frau Wimschneider – bei allen Belastungen und Widrigkeiten ihres Lebens – mitbesitzende Bäuerin war, ein gesellschaftlicher Zustand, der für die zu der Zeit noch größte ländliche Bevölkerungsgruppe der Landlosen unerreichbar war.

U. a. im Böhlau Verlag gibt es eine Reihe von Veröffentlichungen von ehemaligen Mägden, die wahrscheinlich durchweg ihr noch härteres Los mit Anna Wimschneider gern getauscht hätten.

 

 

Es soll hier also eine Art

vergleichende Gesamtschau zum Leben und Arbeitender ländlichen Bevölkerung im deutschsprachigen Raum

 

entstehen, die es in der bisher gesichteten Fachliteratur offensichtlich in dieser Form noch nicht gibt.

Eine entsprechende Teilbasis für dieses angedachte Buchprojekt sollen nun diese bekannten und jeweils geographisch unterschiedlichen Spezialproblematiken der ländlichen Unterschichten behandelnde Filme aus dem deutschen Sprachraum zumindest den Hintergrund bilden.

Sie sollen – ähnlich wie Walter Kempowski es in seinem Werk Echolot angelegt hatcollagenartig übereinander gelegt werden und damit erstmals Kausalzusammenhänge der verschiedenen Wirkfaktoren auf das Leben und Schaffen der unterbäuerlichen Schichten erkennen lassen.

 

Eines soll dabei auch deutlich werden:

Das 18. und 19. Jahrhundert waren „vor Ort“ angehäuft mit einer Fülle von Kriminalfällen verschiedenster Art, die durch das verordnete „Schweigemilieu“ der besitzenden Landbevölkerung nachweislich nicht oder nur wenig geahndet wurden. Sie erscheinen auch nicht in offiziellen Archiven. Hier zeigt sich die Wichtigkeit der Befragung von älteren Gewährsleuten.

 

Zusammenfassung:

  • Im deutschen Nordwesten hat sich sehr deutlich gezeigt, welch enormes Interesse am bisher total vernachlässigten (Tabu) Thema Besitzlose Landbevölkerung besteht. Befragungen von Zeitzeugen in anderen Teilen des Landes (einschließlich Österreich und Schweiz) belegen eindeutig, dass auch dort diese Sozialisationsform bis heute unverarbeitet in den Köpfen steckt und dringend aufgearbeitet werden sollte.
  • Die oben aufgeführten erfolgreichen Filme haben jeweils brisante Teilthematiken beleuchtet. Hier drängt sich nun direkt auf, die einzelnen Wirkfaktoren zusammenfassend publikumswirksam ins Buch zu bringen und – wie im Nordwesten – einen Aha-Effekt zu erzeugen mit der Erkenntnis: So haben wir das ja gar nicht vermutet, aber so war es ja tatsächlich…
  • Ein Faktum könnte der Veröffentlichung noch entgegenstehen: Es hat sich in der bisherigen Bearbeitung dieses Themenkomplexen deutlich gezeigt, dass Historiker und Volkskundler als Entscheidungsträger – zumeist aus der gehobenen Mittelschicht stammend – weder im Studium noch im Alltagsleben auf diese Problematik der früher großen Gruppe der unterbäuerlichen Schichten gestoßen sind. Immer wieder kommt es bei meinen Vorträgen vor, dass insbesondere gymnasiale Historiker sich anschließend erstaunt melden und – unabhängig voneinander – berichten, dass ihnen diese von mir aufgezeigten logischen Kausalketten weder aus dem Studium noch aus den Schulbüchern bekannt seien.
  • Die guten Verkaufszahlen in Osnabrück, Bielefeld und Münster zeigen offensichtlich, dass dieser Themenkomplex nicht nur im ländlichen Bereich auf Interesse stößt. Schließlich findet der überaus größte Teil der angestammten Bevölkerung im dörflich agrarischen Bereich seine Vorfahren.
  • Bei meinen Fahrten und Begegnungen in anderen Regionen des deutschsprachigen Raumes erlebe ich das gleiche Interesse und die entsprechende Betroffenheit der Ansprechpartner bei diesem Thema: Unterdrückung und Ungerechtigkeiten werden nicht vergessen.

Oberste Devise auch bei diesem Buchprojekt soll sein: 

Nach möglichst intensiven und wissenschaftlich abgesicherten Recherchen sollen die thematisch relevanten Daten und Fakten aus den verschiedenen Regionen im deutschsprachigen Bereich „nur“ beschrieben werden. Das darf nicht zu einer Anklage gegen Landbesitzende geraten…

 

Fotos: Archiv Robben