Aufsatz zu Neubauern 1

Entwicklung der neuen unterbäuerlichen Schicht der Neubauern in der  Vogtei/Samtgemeinde Riemsloh-Hoyel im 19. Jh.

 von Dr. Herbert F. Bäumer

 Einleitung

Das 19. Jh. wird in den westeuropäischen Industriestaaten in seiner Gesamtheit durch den explosiven Anstieg der Bevölkerung geprägt. Die europäische Bevölkerung stieg von 140 Mill. im Jahre 1750 über 266 Mill. im Jahr 1850 auf 401 Mill. Einwohner bis 1900 an. In Deutschland lebten um 1800 ca. 24 Mill. Menschen. Das Bevölkerungswachstum im 19. Jh. in Deutschland war im Grunde nur eine Fortsetzung der Entwicklung bis 1800, allerdings in beschleunigter Form. Der Bevölkerungszuwachs von 1800 bis 1850 betrug 52 %, von 1850 bis 1900 ca. 60 %.

 

Jahr Mill. Einwohner Zuwachs in %
1800 24,5
1810 25,5 4,1
1820 26,3 3,2
1830 29,5 12,1
1840 32,8 11,2
1850 35,4 7,9
1860 37,8 6,8
1870 40,8 7,9
1880 45,3 11,0
1890 49,5 9,3
1900 56,4 13,9
1910 64,9 15,1
1914 67,8 4,5

Tab. 1: Bevölkerungsentwicklung in Deutschland 1800 bis 1914

 

Begründet wird diese Entwicklung durch Verbesserungen der hygienischen Verhältnisse, den Fortschritten in der Medizin und einer ausgewogenen Ernährung. Diese positive Entwicklung trug dazu bei, dass Säuglings- und Kindersterblichkeit drastisch absank und mehr Menschen das zeugungs- und gebärfähige Alter erreichten. Bevölkerungsverdichtungen hatten oftmals eine schnellere Kulturentwicklung zur Folge, die z. B. durch Arbeitsteilung und verbesserte Hygiene wiederum zu weiterer Bevölkerungsdynamik führte. Für den ökonomischen Entwicklungsstand Deutschlands bedeutete dieser jährliche Zuwachs eine erhebliche Belastung. Merkmale einer relativen Übervölkerung waren hohe Agrarpreise, niedrige Löhne und der daraus resultierende geringe Lebensstandard der Bevölkerung. Die Bauernbefreiung[1] ermöglichte dem überwiegenden Teil der ländlichen Bevölkerung sich von grundherrlicher Abhängigkeit zu befreien. Langsam wurden Reformen der Agrar- und Gewerbeverfassung umgesetzt. Durch gesetzliche Veränderungen sollte die Loslösung landwirtschaftlich Tätiger von grundherrlichen Auflagen erreicht werden. Grundbesitz musste von bäuerlichen Betrieben wirtschaftlich geführt werden, um bei Konkurrenz die Tragfähigkeit des Bodens zu erhöhen. Heuerlinge hatten die Möglichkeit, sich von Abhängigkeiten der Bauern zu lösen und durch Schaffung von Eigentum Neubauer zu werden. Agrarreformen, Privatisierung der Marken und Ablösungen vom Grundherrn dienten der freien Bewirtschaftung und waren damit gleichzeitig Schlüssel zum ökonomischen Fortschritt in der Landwirtschaft. Die Bauernbefreiung hatte zur Folge:

  • minderwertige Frondienste zur Sicherung des Einkommens der Bauern durch Lohnarbeit zu ersetzen,
  • Dreifelderwirtschaft zugunsten der Fruchtwechselwirtschaft aufzugeben,
  • unproduktives Land aus Gemeindeeigentum in produktives Privateigentum umzuwandeln,
  • Kleinparzellen in Gemengelage zur rationellen Bewirtschaftung zusammenzulegen.

Die thematische Eingrenzung bezieht sich auf die neue unterbäuerliche Schicht der Neubauern im 19. Jh. in räumlicher und räumlich-sozialer und räumlich-ökonomischer Sicht. Die räumliche Eingrenzung bezieht sich auf die ehemalige Vogtei/Samtgemeinde Riemsloh-Hoyel mit den Bauerschaften Bennien, Döhren, Groß Aschen, Hoyel, Krukum, Westendorf und Westhoyel, dem heutigen Meller Stadtteil Riemsloh-Hoyel.

 

  1. Entwicklung der Neubauern als neue Form der kleinbäuerlichen Schicht

 

Zum Ende des 18. Jh. siedelten nachweislich erste Neubauern im Fürstentum Osnabrück.[2]  Bereits um 1806 hatten sich in verschiedenen Kirchorten ca. 400 Neubauern niedergelassen. Belege für Erstnennungen von Neubauern und Neusiedlern sind nicht vorhanden. Auch Handwerker, die sich in einem Kirchdorf ein Haus bauten, zählten zu dieser unterbäuerlichen Schicht. In der Vogtei Riemsloh-Hoyel wird von einem Schuster berichtet, der 1734 einen Bauplatz kaufte und die Rechte eines Neubauern beanspruchte.[3] Rechte und Pflichten, z. B. beim Schuster Johann Dirk Möller, bestanden in einem Anerkennungsgeld von 18 Pf. an den Erbgrundherrn und einem jährlichen Handdienst. Sein Haus wurde mit einem Reichstaler für den Rauchschatz angesetzt und ihm stand das Recht zu, von den Reihelasten z. B. Fluss- und Bachreinigung und Straßeninstandhaltung befreit zu sein. Nachweislich wird von einem Neubauern aus Glandorf berichtet, der 1767 Markenland gekauft und diesen neuen Besitz erst 1796 zur Hälfte kultiviert hatte. In den dicht bevölkerten Kirchspielen des Amtes Grönenberg wie z. B. Riemsloh-Hoyel, Neuenkirchen und Wellingholzhausen kam es zur Ansiedlung von Neubauern, die oftmals “nicht gut im Stande waren”. Neubauern lebten zu Beginn des 19. Jh. im eigenen Haus vom Tagelohn beim Bauern oder sonstigem Nebenerwerb. Ihre teilweise geringe Anbaufläche reichte als Existenz nicht aus, folglich blieben sie abhängig und arm wie Heuerlinge. Um ca. 1800 wurden im Grönegau schon erste Klagen darüber laut, dass Neubauern, aufgrund ihrer mangelnden Kenntnisse in der Ackerbaukultivierung und wegen geringer Anbauflächen, von Erfolglosigkeit gekennzeichnet waren. Die Bewirtschaftung des geringen Eigenlandes ohne eigene Zugtiere bzw. Maschinen konnte kaum geleistet werden. Mit der neuen Form der Selbstständigkeit waren Neubauern häufig überfordert. Unsinnige Arbeiten und der geringe natürliche Dünger führten teilweise nicht zum Erfolg. Heuerlinge konnten dagegen bei Bewirtschaftung ihres Pachtlandes auf Hilfeleistung “ihres Bauern” vertrauen, der ihnen als Gegenleistung Maschinen und Geräte überließ. Trotz widriger Umstände suchte die kleinbäuerliche Schicht weiterhin die Übernahme von Hofstellen mit Eigenland bzw. mit Zupachtung. Der sich neu entwickelnde Neubauerstand rekrutierte sich in erster Linie aus Heuerlingen, Söhnen der Heuerlinge und abgehenden Söhnen der groß- bzw. mittelbäuerlichen Schicht.

 

  1. Heuerlingswesen als Voraussetzung für den Neubauerstand

 

Nach Abschluss der Besiedlung durch Markkötter im ausgehenden 16. Jh. entstand eine neue Gruppe der Landbevölkerung, die Heuerlinge. Zu dieser zahlenmäßig größten Bevölkerungsgruppe zählten Heuerlinge mit Großfamilien sowie Mägde und Knechte aus Heuerlingsfamilien auf Höfen der groß- und mittelbäuerlichen Schicht. Heuerleute heirateten bedeutend eher als Bauernsöhne. Anerben eines Hofes verheirateten sich frühestens mit 30 Jahren, wenn sie von den Eltern die Landwirtschaft übernahmen und die Eltern sich auf die Leibzucht zurückzogen. Heuerleute, die durch Nebeneinkünfte aus der Leinenproduktion zu Geld kamen, gründeten schon mit 20 Jahren einen eigenen Hausstand und eine Familie mit vielen Kindern.

Grundlage der Heuerlingswirtschaft waren Kontrakte über vier bis sieben Jahre zwischen Bauern und Heuerlingen, die auch die Pacht einer Wohnung und eines Stück Landes beinhalteten. Für die Dauer der Pachtzeit war die Art der Düngung maßgebend. Düngung mit Stalldung übte nach herrschenden Anschauung ihre Wirkung auf drei bis vier Jahre aus, Düngung mit Plaggen nur auf ein Jahr. Heuerlinge hatten als Gegenleistung geringe Geldmiete zu zahlen und stetige Arbeitsbereitschaft vorzuhalten. In einer zeitgenössischen Formulierung heißt es: “Der Heuerling und auch seine Frau hatten auf Wink oder auf Pfiff des Bauern zur Arbeit zu erscheinen.” Im Nebenerwerb verdingten sich Heuerlinge durch verschiedene Tätigkeiten als Handwerker oder Wald- und Straßenarbeiter. Im 19. Jh. konnten Heuerlinge selten von Diensten beim Bauern und von Erträgen des Pachtlandes leben. Eine Entwicklung zum Wohlstand war fast unmöglich. Unvorhergesehener Unglücksfall, Krankheit in der Familie oder Verlust einer Kuh brachte dem Heuerling Verfall und Armut, oftmals mit der Folge von Moralverlust, Diebstahl oder Trunksucht. “So schrieb das Königliche Amt Grönenberg vom 12. Mai 1869 an den Vorsteher Dustmann von der Gemeinde Bennien: Der Heuerling Hermann Heinrich Knigge aus Bennien hat hier vorgetragen, daß sein Schwiegervater, der Heuerling, Caspar Heinrich Knappmann, welcher mit ihm in einem Hause wohne, 69 Jahr alt, aber noch ziemlich arbeitsfähig, sich dem Trunke und dem Müßiggange in einer Weise ergebe, daß er denselben nicht länger im Hause behalten könne, auch triebe sich der p. Knappmann vielfach bettelnd umher. Sie werden hierdurch veranlaßt, auf den p. Knappmann zu achten, wenn derselbe bettelnd getroffen werden sollte, ihn sofort zur Anzeige zu bringen, insbesondere aber zu ermitteln, ob die erforderlichen Thatsachen vorliegen, welche gegen p. Knappmann ein Einschreiten auf Grund des § 119 Nr. 1 des Strafgesetzbuches rechtfertigen würden. Dieser § lautet: ‘Mit Gefängniß von einer Woche bis zu 3 Monaten wird bestraft: wer sich dem Spiele, dem Trunke oder Müßiggange dergestalt hingibt, daß er in einen Zustand versinkt, in welchem zu seinem Unterhalt durch Vermittelung der Behörde fremde Hülfe in Anspruch genommen werden muß.’ Der Gendarm Ellfeld ist in gleicher Weise requiriert. Königliches Amt Grönenberg, Süs.”

Als Gegenmaßnahme schlug Möser im 18. Jh. vor, eine Ansiedlung von Heuerlingen auf eigenem Grund und Boden vorzunehmen. Konnten Heuerleute vor der Teilung der Marken Grund und Boden ohne rechtliche Grundlage mitnutzen, so war dieses nach der Teilung aufgrund klarer Abgrenzung gegenüber der groß- und mittelbäuerlichen Schicht nicht mehr gegeben. Die Viehhaltung für Heuerleute war stark eingeschränkt bzw. nicht mehr möglich. Dadurch veränderte sich die wirtschaftliche Stellung des Heuerlings grundlegend. In den meisten Fällen stand Heuerleuten Pachtland bis maximal 1,5 ha in kleinen Einheiten zur Verfügung. Der Anteil der besitzlosen unterbäuerlichen Schicht nahm extrem zu und Arbeitsmöglichkeiten boten sich nur als Magd oder Knecht auf Höfen der Groß- und Mittelbauern. Andere Arbeitsplätze standen im ländlichen Raum Riemsloh-Hoyel nur im Handwerk und bedingt im Leinengewerbe zur Verfügung. Das Verhältnis der groß- und mittelbäuerlichen Hofstellen zu Heuerlingsstellen lag 1806 bei ca. 1:3.

“Vorschläge aus den Jahren 1816/20 zielten auf Einschränkungen der Heuerleute hin. Heiratsbeschränkungen, Erschwerung der Niederlassung von Ausländern und eine gesetzliche Einwirkung auf die schriftlichen Heuerverträge wurden für nötig gehalten; … Die Stände machten (1819) folgende Vorschläge:

  1. Der zu großen Vermehrung der Heuerleute muß entgegengewirkt werden. Den Heuerleuten darf es nur mit Einwilligung der Behörden gestattet sein, zu heiraten. Diese Einwilligung ist nur dann zu erteilen, wenn nachgewiesen ist, daß die Heuerleute eine Wohnung und das zum Leben Notwendige haben und imstande sind, ihren Unterhalt zu gewinnen. Den Soldaten muß das Heiraten ohne Consens untersagt werden, denn gerade durch deren zahlreiche Heiraten wird sich die Zahl der Heuerlinge ungewöhnlich vermehren.
  2. Es ist zu verordnen, daß ein Heuermann, der in ein anderes Kirchspiel zieht, dem Vorsteher eine genügende Sicherheit zu stellen hat, daß er in 10 Jahren den Armenmitteln nicht zur Last fällt …
  3. Den Heuerleuten ist der Erwerb von Grundeigentum zu erleichtern, daher möge den Hofbesitzern die Veräußerung entbehrlicher Grundstücke nicht zu sehr erschwert werden.
  4. Auf dem Lande sind gut organisierte Armenanstalten einzurichten. In diesen Vorschlägen stimmten die beiden Kurien überein. Die städtische war ferner:
  5. für eine Verordnung, daß die Verträge zwischen Hofbesitzern und Heuerleuten schriftlich abzufassen und vor dem Amt oder dem Vogt zu vollziehen seien. In den schriftlichen Verträgen sollten Umfang und Preis der Heuer, besonders aber die Dienste und ihre Vergütung genau bestimmt werden. Mündliche Verabredungen sollten kein Klagerecht geben. Es sei ferner zu verordnen, daß der Heuermann zu den Diensten am Tage vorher bestellt werden müsse.”[4]

Für Heuerleute sollte eine umfangreiche Domizil- und Trauscheinordnung von 1827 eine größere Ausdehnung verhindern. Ein weiterer Gesetzentwurf aus dem Jahre 1830 modifizierte die Heuerkontrakte. “Auf Antrag der Allgemeinen Ständeversammlung wurde nun im Jahre 1827 festgesetzt, daß kein Pfarrer eine Trauung von Personen, die unter Amts- oder Magistratsobrigkeit standen, vornehmen dürfe, bevor die Brautleute eine Bescheinigung beibrächten, daß sie in der Gemeinde aufgenommen würden, in der sie sich niederzulassen gedachten. Diese Trauscheine waren von den Obrigkeiten (Unterbehörden) auszustellen, in den Städten von den Magistraten, auf dem Lande von den Ämtern. Die Trauscheine mußten auf Stempelpapier ausgefertigt werden, außerdem war eine Gebühr von 8 guten Groschen zu entrichten. Im Jahre 1848 wurden die Gebühren für Trauscheins- und Domizil-Sachen aufgehoben.”[5] In den Folgejahren blieben Anträge der Stände seitens der Regierung ohne Bescheid. Die Landdrostei schloss sich dem Ruf nach Reformen an, stellte wichtige Punkte zusammen, um auf die schlechte Lage der Heuerlinge hinzuweisen.

Das Sinken der Garn- und Leinenpreise; den ungünstigen Einfluß der Markenteilungen auf die Lage der Heuerlinge; den Mangel schriftlicher Heuerverträge; die ungemessene Zahl der Dienste des Heuerlings, ihre Unentgeltlichkeit und die Art der Bestellung zu diesen Diensten; den mangelhaften Zustand der Heuerwohnungen; die häufigen Prozesse zwischen Heuerling und Verpächter über die Heuer und Gegenleistungen; den geringen, zur Ernährung einer Familie nicht genügenden Umfang der Heuer; die oft schlechte Beschaffenheit der verheuerten Ländereien; die kurze Dauer der Pachtzeit.” [6]

 

Kirchspiel Anzahl

Heuerleute

Pachtland Heuerleute in Morgen Durchschn. Flächen, ha Viehbestand Kühe/Pferde Pachtpreise Mittelwert pro Morgen
Buer 302 1.432 1,18 367/0 6 rth/3 ggr
Melle 582 2.532 1,09 536/18 3 rth/4 ggr
Oldendorf 121 468 0,97 130/0 3 rth/4 ggr
Gesmold 86 213 0,62 66/0 0/0
Neuenkirchen 422 1.324 0,78 402/0 5 rth/18 ggr
Riemsloh 364 1.053 0,72 320/1 5 rth/0
Wellingholzh. 207 893 1,08 257/5 4 rth/6 ggr
Gutsbezirk 105 1.055 2,51 194/23 0/0
Amt Melle ges. 2.189 8.950 1,02 2.272/47  

Tab. 2: Heuerlinge mit Pachtland und Viehbestand im Amt Melle um 1850

 

Die Ämter wiesen die Regierung auf die Notwendigkeit hin, Heuerleute verstärkt einem landwirtschaftlichen Eigenbetrieb zuzuführen. Eine Statistik des Jahres 1847 über Heuerlingsstellen im Amt Melle zeigt, dass Landbesitz der Heuerleute nicht zum Lebensunterhalt reichte und Zupachtung meist von kleinen bzw. abgelegenen Landstücken möglich war. Grundsätzlich gab es keine einheitliche Größe der Heuerstellen. Aus Kleinststellen entwickelten sich unterschiedliche Größen bis zu 30 Scheffelsaat selbst bewirtschafteter Fläche mit einem Viehbestand von bis zu drei Kühen, ca. drei Sauen und Hühnerhaltung. Vereinzelt gab es Heuerstellen mit 50 Scheffelsaat und entsprechendem Viehbestand. Eine weit verbreitete Größe, die sog. “Einheitsgröße”, war 13 Scheffelsaat, (1,625 ha) eine Kuh, zwei Sauen und Hühnerhaltung. Versorgungsprobleme bei Heuerleuten wurden in den Misserntejahren 1846/47 verstärkt, so dass die Regierung Lebensmittel verteilen musste und Branntweinbrennereien stilllegte, um das Getreide zur Nahrungsmittelgrundversorgung zu verwenden. Der Anteil der Heuerlinge mit gleichzeitig durchschnittlich geringem Pachtlandanteil war in Riemsloh, Gesmold und Neuenkirchen besonders hoch mit der Folge, dass Not und Armut in diesen Kirchspielen besonders hervortrat. Unruhen der Notjahre wurden erst gemildert, nachdem das “Gesetz betreffend die Verhältnisse der Heuerleute” für das Fürstentum Osnabrück vom 24. Oktober 1848 umgesetzt wurde. Danach konnten nur dann Erbpachten und Neubauereien angelegt werden, wenn die Kommissionen, bestehend zu gleichen Teilen aus Mitgliedern der Grundbesitzer und Heuerlinge, diesem Vorhaben zustimmten. Grundbesitzer mussten den Heuerlingen entgegenkommen und ihnen Pachtland zur Verfügung stellen, wenn ihnen an Heuerlingen gelegen war. Als Alternative nutzten Heuerleute sonst die Gelegenheit zur Auswanderung, um sich wirtschaftlich zu verbessern oder dem Militärdienst zu entgehen. Tüchtige und kapitalkräftige Heuerleute wanderten aus, verschafften ärmeren Menschen Platz und Arbeit, so dass um 1860 bei den Bauern Mangel an Landarbeitern und Tagelöhnern durch die Auswanderung einsetzte.[7] Zur Stabilisierung der wirtschaftlichen und sozialen Lage der Heuerleute in den Gemeinden sollte 1848 von der Regierung den Heuerleuten ein Stimmrecht in der Gemeinde eingeräumt werden. Zur Umsetzung gelangte diese Regelung erst im Zuge der Landgemeindeordnung des Jahres 1895.

Ende des 19. Jh. veränderte die industrielle Entwicklung das Arbeitsplatzangebot, so dass Heuerleute in Industriezentren zogen, ihre Heuerstellen teilweise nicht mehr besetzt waren und Grundbesitz zum Verkauf anstand. Im Raum Riemsloh-Hoyel nutzten einige Heuerleute die Möglichkeiten zur Auswanderung bzw. in Ansätzen auch Abwanderungen in nahe gelegene Industriegebiete nach Melle, Osnabrück und teilweise auch nach Bielefeld.

 

  1. Kriterien für Veränderungen zum Neubauerstand

 

Die Entwicklung einer bäuerlichen Schicht, die, wie in früheren Epochen nach Eigenbesitz strebte, vollzog sich durch Ansiedlung der Neubauern bzw. Neusiedler, die überwiegend im 19. Jh. die Zahl der Gehöfte in jeder Gemeinde bzw. Bauerschaft ansteigen ließen. Diese Neubesiedlung wurde vor allem aus dem Heuerlingsstand durchgeführt, der sich in den Anfangsjahren, je nach Teilung der entsprechenden Marken, sehr schleppend verbreitete. Auffällig ist, dass das Kirchspiel Neuenkirchen schon 1785 ein Viertel der Mark geteilt hatte. Neuansiedlungen der Neubauern auf eigenem Grund und Boden oder als Erbpächter auf gepachtetem Land waren mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden. Neubauern mussten ein Haus bauen, oft erst nur eine Plaggenhütte, beim Bauern Tagelohn leisten, durch Arbeiten wie Spinnen, Weben, Hilfsarbeiten im Forst oder Steinbruch und durch andere Tätigkeiten für den täglichen Broterwerb sorgen. Zwischen Heuerlingen und Neubauern bestanden im wirtschaftlichen Bereich kaum Unterschiede, teilweise war die Lage der Neusiedler noch ungünstiger. Durch Erwerb von Eigentum stieg der ehemalige Heuerling zum Neubauern sozial auf, verbunden mit Stimmrecht in der Gemeinde.

 

Einheit Ort Zeitpunkt Neubauerstellen
Bauerschaft Groß Aschen

Vogtei Riemsloh-Hoyel

1734 und 1805 5
Kirchspiel Glandorf 1794 1
Kirchspiel Laer 1794 2
Bohmte 1802 2
Wellingen 1804 1
Kirchspiel Melle 1805 8
Kirchspiel Neuenkirchen/Melle 1805 59
Kirchspiel Wellingholzhausen 1805 6
Haaren/Ostercappeln 1818 1

Tab. 3: Neubauerstellen im Osnabrücker Land um 1800

 

Neue Eigentümer hatten Grund- und Gebäudesteuer sowie Feuerversicherungsprämien für ihre Häuser zu zahlen und auf Instandhaltung der Gebäude zu achten. Bei Heuerlingen entfielen Steuern, Versicherungsprämien und Instandhaltungskosten für die jeweiligen Kotten. Pacht für ein Landstück war für Heuerlinge oft günstiger als Schuldzins beim Kauf der gleichen Größe Ackerland. Nach volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten konnte Eigenbesitz wesentlich intensiver bewirtschaftet werden als Pachtbesitz, da u. a. langfristige Bodenbearbeitung durch Düngung vorgenommen werden konnte.

Nach den Markenteilungen in Riemsloh, Bennien und Aschen 1795 bis 1830 festigte sich die wirtschaftliche Lage der Großbauern, so dass nur noch vereinzelt abgelegene Flächen verkauft wurden. Fruchtbarer Boden stand für Bau- bzw. Siedelland nicht zur Verfügung. Zum Erwerb von Eigentum blieben Neubauern nur Waldrandstücke-, Waldheide oder Moorgebiete, die als Kulturland umgewandelt werden mussten. Standen solche Flächen nicht zur Verfügung, blieb abgehenden Bauernsöhnen oder Heuerlingen nur die Möglichkeit zur Aus- bzw. Abwanderung. Als Existenzsicherung versuchten junge Menschen im gewerblichen Bereich oder in der Industrie Arbeit zu finden. Um die Kontinuität in der Entwicklung der unterbäuerlichen Schicht zu sichern und die Einwohnerschaft auf dem Lande zu halten, förderte der Staat bzw. die Gemeinde den Ausbau von Siedlungen. In der Entstehungszeit der unterbäuerlichen Schicht war “Eigenbesitz” für Neubauern Abgrenzungskriterium gegenüber Heuerlingen. Wirtschaftliche Veränderungen jedoch waren kaum sichtbar. Die gesellschaftliche Stellung der Neubauern wurde mit dem Begriff “Colon” (Kolon) [8] verdeutlicht, der dadurch eine Angleichung an Erb- und Markkötter erfuhr.

 

Heuerling Neubauer
besitzlose unterbäuerliche Schicht besitzende unterbäuerliche Schicht
Abhängigkeit vom Haupthof völlige Unabhängigkeit
vom Hof zur Verfügung gestellter Wohnraum gegen Entgelt eigenes Haus, anfangs Stall oder Hütte auf eigenem oder gepachtetem Land
Hausgröße durch Heuerstelle vorgegeben Hausgröße bestimmt nach Finanzkraft
Hauserweiterung nicht möglich Hauserweiterung und An- oder Umbauten möglich
zur Hilfe auf dem Hof verpflichtet kann als Tagelöhner auf dem Hof mitarbeiten
Pachtland gegen Gebühr Eigenland und/oder Pachtland gegen Gebühr
Erweiterung durch zusätzliches Pachtland Erweiterung durch zusätzliches Pachtland oder durch Zukauf
bei Räumung bzw. Ablauf der Pacht evtl. mittellos bei Abgabe Erlös durch Verkaufspreis

Tab. 4: Unterscheidungsmerkmale von Heuerlingen und Neubauern

 

Ausnahmen bildeten einige Neusiedler/Neubauern, die als Kaufleute oder Gewerbetreibende im dörflichen Leben hohes Ansehen erlangten und ihren landwirtschaftlichen Betrieb nur als kleinen Nebenerwerb ansahen. Beispiele dafür waren der ehemalige Neubauer Bulthaup, Groß Aschen, der in zweiter Generation als Händler und Kaufmann Lieferant von internationalen Tabakwaren und Samen war, der frühere Neubauer Nagel, Hoyel, der aus kleinsten Anfängen in zweiter bzw. dritter Generation als Händler und später als Konsul in Java ein nicht unerhebliches Vermögen erwirtschaftete. Neusiedler, z. B. Kahle (Manufakturwaren und Gaststätte) und Stein (Apotheker), beide in Krukum, belegen noch heute durch ihre stattlichen Häuser, dass sie schon damals über guten finanziellen Grundstock verfügten. Je größer die Anzahl der Heuerkotten wurde, desto stärker beschränkte sich die Bezeichnung “Kötter” auf Heuerleute, während sie bei Erb- und Markköttern in Vergessenheit geriet, weil diese Erbberechtigten auch die Zusatzbezeichnung “Colon” (Kolon) führten.

 

  1. Veränderungen durch die Neubauern

 

Was hat also die neue Form der unterbäuerlichen Schicht der Neubauern in der ehemaligen Vogtei/Samtgemeinde Riemsloh-Hoyel bewirkt? Anhand von vier Beispielen soll dargelegt werden, wie Neubauern aus räumlicher, räumlich-ökonomischer und räumlich-sozialer Sicht zur Entwicklung eines Raumes beigetragen haben:

  • Neubauern und Nebenerwerb
  • Finanzierung von Neubauerstellen
  • Veränderung der Baustruktur durch Neubauern
  • Räumliche Veränderungen durch Neubauern

 

4.1.      Neubauern und Nebenerwerb

 

Zum Lebensunterhalt einer Familie, für Pachtzahlungen der Ländereien und evtl. für Ratenzahlungen des eigenen Hauses mussten Neubauern, entsprechend ihrer Wirtschaftskraft und je nach Jahreszeit, den unterschiedlichsten Nebenerwerbsquellen nachgehen. Klassische Berufe für diese bäuerliche Schicht in der Vogtei Riemsloh-Hoyel waren Maurer/Schlachter, Zimmermann, Holzschuhmacher und Forstarbeiter.

In Deutschland gab es um 1800 fast 1,3 Mill. Handwerker, ca. 2/3 davon waren selbstständig, so dass auf 1.000 Einwohner ca. 56 Handwerker entfielen. Deutliches Gefälle bestand bei typischen Handwerksberufen im ländlichen gegenüber dem städtischen Bereich. Landhandwerker in Gemeinden mit bis 250 Einwohner waren überwiegend Müller, Schmied, Stellmacher und Schneider, in größeren Dörfern bis zu ca. 1.000 Einwohner kamen Schuhmacher, Schreiner und Zimmerleute in nennenswertem Umfang hinzu. Schwierig bleibt zu beurteilen, mit welcher Intensität bzw. mit welchem Ertrag (Gewinn) dieser Nebenerwerb des Handwerks ausgeführt werden konnte. Neben landwirtschaftlicher Tätigkeit, die von allen Neubauern unterschiedlich intensiv betrieben wurde, führte der Dorfhandwerker oftmals verschiedene gewerbliche Tätigkeiten aus. Eine Wertung zur Einkommenssituation der Landhandwerker ist kaum möglich. Die meisten Handwerker arbeiteten ohne Hilfskräfte. Einnahmen aus handwerklicher Arbeit reichten nur in Ausnahmefällen zu einer kümmerlichen Existenz. Quantitative Aussagen im Handwerk, unterteilt nach Meister, Gesellen und Lehrlingen beschränken sich auf grobe Angaben bzw. Schätzungen. Überlieferte Statistiken sind häufig unvollständig.

Neubauern waren in den ersten Jahren der Selbstständigkeit vorwiegend im primären Sektor mit der Urbarmachung ihrer Flächen beschäftigt. Mangelnde Überlieferungen verhindern detaillierte Auflistungen, auch eigene Erhebungen aller Neubauerstellen lassen keine exakten Aussagen zu. Es muss davon ausgegangen werden, dass ein Großteil der Heuerleute auch einem Nebenerwerb nachging. Nur so ist es zu erklären, dass ehemalige Heuerleute und spätere Neubauern z. T. auf 200 bis 350-jährige Handwerkertraditionen zurückblicken können.

Die Lage im Handwerk verbesserte sich in der ersten Hälfte des 19. Jh. durch starkes Bevölkerungswachstum. Im ländlichen Bereich war das Handwerk von der Landwirtschaft abhängig. Schlechte Ernten oder Preisverfall ließen dem gewerblichen Handwerk wenig Spielraum. Die Beschäftigtenzahlen im Handwerk stiegen in Preußen in etwa im Einklang mit der Bevölkerungsentwicklung.

 

Berufe Anzahl
nur Landwirte 36
Zimmermann 3
Schneider 5
Bäcker 2
Schlachter 4
Tischler 4
Schmied 1
Stellmacher 6
Schuhmacher 3
Müller 9
gesamt mit Handwerk 37

Tab. 5: Neubauerstellen mit Handwerksberufen in der Vogtei Riemsloh-Hoyel bis 1835

Durch Addition der 36 Neubauern mit Landwirtschaft und der 37 Neubauern mit Handwerk im Nebenberuf ergibt durch Mehrfachnennung einiger Neubauern eine Gesamtzahl von 73 bei insgesamt 61 Neubauerstellen.

 

Veränderungen der Bauhandwerkerstruktur in der Vogtei Riemsloh-Hoyel vollzogen sich schleppend. Steine als Baumaterial setzten sich gegenüber Holz nur langsam durch. Bis 1835 sind in der Vogtei Riemsloh-Hoyel von 61 Neubauern 37 Handwerker bzw. Gewerbetreibende. Lebensnotwendige Handwerksberufe waren in der Vogtei Riemsloh-Hoyel bereits vorhanden. Das Bäckerhandwerk hatte sich noch nicht etabliert. Fast jeder Hof besaß ein kleines Backhaus oder die Möglichkeit, das gemeinschaftliche Backhaus in der Ortsmitte mitzubenutzen.

 

Ort Fläche/Einw

 

   km²

Landwirte

 

abs.    %

Landwirte/

Handwerker

abs.       %

Landwirte/

Händler

abs.     %

Landwirte/

Arbeiter

abs.      %

gesamt

 

abs.     %

Bennien 6,7 638 5 7,9 19 30,1 11 17,5 28 44,5 63 100
Döhren 5,82 623 3 4,3 41 58,6 9 12,8 17 24,3 70 100
Gr. Aschen 3,90 382 1 1,9 22 41,5 8 15,1 22 41,5 53 100
Hoyel 3,38 485 35 57,4 13 21,3 13 21,3 61 100
Krukum 9,24 834 4 3,6 33 29,5 23 20,5 52 46,4 112 100
Westend. 3,34 337 2 8,0 16 64 7 28 25 100
Westhoyel 3,02 284 2 6,1 18 54,5 7 21,2 6 18,2 33 100
Gesamt 35,4 3583 17 4,0 184 44 71 17 145 35 417 100

Tab. 6: Neubauern mit Nebenerwerb nach Berufsgruppen 1905

Angaben stimmen mit der Zahl der Neubauerstellen 417 statt 301 nicht überein. Teilweise lebten Geschwister mit in der Neubauerstelle, außerdem kam es zu Mehrfachnennungen.

 

Handwerker verfügten grundsätzlich nur über eine schmale Kapitaldecke. Zur damaligen Zeit schrieben Handwerker grundsätzlich nur zum Jahresende Rechnungen und mit deren Begleichung konnten sie oftmals erst im Mai des Folgejahres rechnen. Agrarkrisen waren auch gleichzeitig Krisen des Landhandwerks. Landhandwerker mit einer Neubauerstelle hatten den Vorteil, bei Auftragsrückgang bzw. schlechter Zahlungsmoral der Kunden mindestens durch die Landwirtschaft das Existenzminimum zu sichern. Die Handwerker, z. B. Tischler, Schmied und Schuhmacher arbeiteten überwiegend im regionalen Raum. Ihr Arbeitsbereich ging selten über die Gemeinde-, Samtgemeinde- bzw. Landesgrenze hinaus.

 

4.2.      Finanzierung von Neubauerstellen

 

Neubauern kamen fast ausnahmslos aus der Bauerschaft, Vogtei-Samtgemeinde oder dem Grönegau, in seltenen Fällen aus dem westfälischen Raum. Kauf oder Errichtung einer Neubauerstelle war nur bei solider finanzieller Grundlage gewährleistet, die von den jeweiligen Ämtern oder später von den Sparkassen geprüft sein mussten. Eine der folgenden Voraussetzung zur Gründung einer Neubauerstelle war notwendig:

  • Zahlung einer Mitgift bei Heirat

Abgehende Bauerntöchter bekamen als Mitgift nicht nur eine Truhe mit Wäsche als Aussteuer, sondern Töchter wohlhabender Bauern evtl. ein Stück Land oder einen Geldbetrag.

  • Bereitstellung eines nicht mehr benötigten Kottens oder Stalls als Mitgift

Das Neubauerhaus Landwehr, Döhren Nr. 36, wurde nach Aussagen der Familie Schröder 1818 aus dem Raum Wallenbrück (Westfalen) nach Döhren als Mitgift des Haupthofes umgesetzt. Aussagen beziehen sich auf mündliche Überlieferungen und auf alte Balkeninschriften.

  • Bereitstellung einer Fläche als Pachtland

Für diese Art der Stelleneinrichtung liegen nur Vermutungen bzw. Äußerungen älterer Bewohner vor.

  • Ersparnisse des Heuerlings

In der Literatur sind nur wenige Beispiele exakter Haushaltsführung der Heuerlinge bekannt. Wrasmann (1922) nennt drei Heuerlingsfamilien, die mit gepachtetem Acker- und Wiesenland (6-15,5 Scheffelsaat, 1 Osnabrücker Scheffelsaat = 0,11772 ha) 1846 ihren Lebensunterhalt bestritten. Gewinne wurden fast nur dadurch erwirtschaftet, dass Heuerlinge bis zur Mitte des 19. Jh. durch Weben gutes Nebeneinkommen erzielten.

  • Leihen eines Geldbetrages vom Verpächter

Weitere Möglichkeit für den Erwerb einer eigenen Stelle war das Leihen eines Geldbetrages vom Verpächter für den Kauf eines Grundstücks. Neubauer Landwehr, Döhren Nr. 36 (lt. Pachtbuch der Familie Schröder, Döhren), hat z. B. für die Umsetzung seines Fachwerkhauses vom Verpächter des Landstückes, Vollerbe Buddenberg, Döhren Nr. 1, einen Betrag von 300 rth geliehen (1818), den er in Jahresraten (zu Michaelis am 29. September), anfangs mit 15 rth, zurückzahlen musste.

 

Abb. 1: Auszug aus dem Pachtbuch des Neubauern Landwehr in Döhren Nr. 36

 

  • Leihen des Betrages von privaten Geldgebern

Private Geldgeber entwickelten ein für damalige Zeit sehr ausgeprägtes Kreditsystem. Erbkötter Brüggemann und Markkötter Weber, beide Döhren, hatten durch gelungene Kombinationen von Handel und Landwirtschaft und umsichtiger Finanzwirtschaft beachtliches Kapital erwirtschaftet. Brüggemann und Weber betrieben jeweils neben einer Gaststätte mit Lebensmittelgeschäft einen Landhandel und Fuhrbetrieb. Lt. Anschreibe- und Kreditbuch des Gastwirts Weber, Döhren, wurden in der Dekade 1831 bis 1840 Gelder in Höhe von 7.303 rth. an unterschiedliche bäuerliche Schichten ausgeliehen. Die Kreditnehmer kamen aus den sieben Bauerschaften der Samtgemeinde Riemsloh-Hoyel und den angrenzenden Gemeinden. Einzelsummen des Kreditgebers Weber schwankten zwischen 12 und 1.000 rth. Ein durchschnittlicher selbstständiger Landtischler, der als sehr qualifiziert dargestellt wurde, erwirtschaftete zu der Zeit im Osnabrücker Raum ca. 700 bis 800 Taler im Jahr. Ein beschäftigter Geselle verdiente ca. 24 Taler im Jahr nebst Kost und Logis.

Genaue Auflistungen aller ausgeliehenen Beträge sind anhand des Anschreibebuches des Erbkötters Brüggemann/Koch nicht aufzustellen, Rückzahlungen bzw. Ablösungen sind nicht exakt vermerkt worden. Ab 1850 verlieh Brüggemann bis zur Gründung der Sparkasse (1853) Beträge zwischen 20 bis 600 rth. zum Zinssatz von 3,5 %. Nachdem die Sparkasse am 24. März 1871 den Zins auf 4 % festlegte, erhöhte Brüggemann ebenfalls den Zinssatz und verlieh Geld überwiegend an Voll- und Halberben in Westendorf und Krukum, teilweise auch an Kunden in Melle. Ein Teil der Groß- und Mittelbauern lieh sich auch noch nach der Einrichtung der Sparkasse Riemsloh-Hoyel Geld von privaten Geldgebern (z. B. Brüggemann, Weber). Kredite auf dieser Ebene konnten besser verdeckt gehalten werden und schädigten nicht das Ansehen. Niederlassungen von Spar- und Kreditkassen im ländlichen Raum waren selten anzutreffen. Neubauern mussten bis 1853 grundsätzlich auf private Kreditmöglichkeiten zurückgreifen. Genaue Finanzierungsmodelle liegen nur vereinzelt vor. Für bäuerliche Betriebe bedeuteten Ablösungen durch private Kredite ebenfalls eine große finanzielle Belastung. Stüve regte 1830 an, eine Kreditanstalt für ablösungswillige Bauern einzurichten.

 

Abb. 2: Auszug aus dem Capitalienbuch Nr. 768 der Sparcasse Riemsloh-Hoyel 1875,

Darlehnsvertrag des Neubauern Erich Bitter

 

Die “Hannoversche Landeskreditanstalt” nahm am 25.6.1842 ihre Arbeit auf und vergab langfristige Kredite zu einem Zinssatz von 3,5 % plus 0,5 % Tilgung. Ablösungen erfuhren dadurch erhebliche Erleichterungen, allerdings mussten Bauern mit langfristiger Verschuldung rechnen. Bis 1865 waren bereits 75 % aller Bauernhöfe von ihren Abgaben und Diensten abgelöst. Positive Erfahrungen mit der “Hannoverschen Landeskreditanstalt” nahmen auch öffentliche Stellen zum Anlass, Einrichtungen der heimischen Sparkassen zu fördern. Der 1853 gegründete ”Landwirtschaftliche Verein” in der Samtgemeinde Riemsloh-Hoyel zeigte sich sehr aufgeschlossen und nahm die Anregung zur Errichtung einer Sparkasse auf. Am 19.12.1853 wurde die “Sparcasse der Samtgemeinde Riemsloh-Hoyel” eröffnet. Von 65 Gründungsmitgliedern des Sparkassenvereins war ein Mitglied Heuerling, zwei Neubauern und 43 Großbauern. Der Vorstand wurde von der großbäuerlichen Schicht, von Kaufleuten und Gastwirten aus der Samtgemeinde Riemsloh-Hoyel besetzt. Es entwickelte sich ein reger Geschäftsverkehr, an dem sich auch Handwerker und Neubauern beteiligten. Gegen Ende des 19. Jh. hatte die Sparkasse Riemsloh-Hoyel auf 2.580 Sparkonten einen Spareinlagenbestand von insgesamt 2,5 Mill. Mark.

 

4.3.      Veränderungen der Baustruktur durch Neubauern

 

Ein Bauernhausensemble bestand vor dem 16. Jh. aus Bauernhaus und dazugehöriger Scheune. Erst danach trifft man auf Nebengebäude, die vorsorglich als Altenteilerwohnung bzw. Leibzucht gebaut worden sind. Solange Altenteiler auf dem Hof wohnten und arbeiteten, waren diese Häuser frei für Heuerlinge. In vielen Details erinnern Altenteilerwohnungen an Bauernhäuser in verkleinerter Form mit wesentlich geringerer Ausstaffierung des Hausschmuckes wie z. B. Verzierungen und Inschriften. Die Grundform des Niedersächsisches Hallenhauses blieb im 19. Jh. bei den Neubauerstellen als verkleinerte Form des Fachwerkhauses bzw. Steinhauses erhalten. Veränderungen vom Fachwerk- zum Steinhaus vollzogen sich langsam und in ihrer Intensität in regionalen Räumen sehr unterschiedlich. Entscheidender Anstoß für bauliche Veränderungen war zweifellos die entstandene Holzknappheit. Die Nutzung der “Gemeinen Mark” hatte den Wald so ruiniert, dass sich keine Naturverjüngung entwickeln konnte. Teilweise wurden die Laubwälder durch übertriebene Wildhege, Beweidung des Waldes und Plaggen schlagen völlig verwüstet. Das Vieh blieb bei milder Witterung den ganzen Winter in der Waldweide, ernährte sich von jungen Trieben und soll häufig mehr Schaden angerichtet haben, als die Tiere wert waren. Eichenbestände wurden für Flottenausbau, Glashütten, Eisenhütten und Salinen verwendet.

Erst ca. 1860 verstärkte sich im ländlichen Raum der Bau von Backsteinhäusern. Grund zur Abkehr vom Fachwerk war auch die Veränderung der Wohnqualität und Hygiene. Gefache wurden mit Backsteinen statt mit Lehm ausgemauert. Gebrannter Rotstein war langlebiger und nicht so empfindlich gegenüber Nässe und pflegeleichter im Vergleich zu Lehm verstrichenen Wänden. Als Mensch und Tier noch unter einem Dach lebten, waren die Viehställe zur Süd- bzw. Westseite ausgerichtet. Die Wohnräume der Menschen lagen zur Ost- bzw. Nordseite ohne Sonneneinstrahlung und mit schlechten Ausdünstungsmöglichkeiten.[9] Die Angleichung an städtische Bauelemente bzw. Baustile war ein weiterer Grund für die Abkehr vom Fachwerk zum Steinhaus. Steinbauten beschränkten sich bis zu Beginn des 19. Jh. fast ausnahmslos auf Kirchen, Herrensitze, Güter und Burganlagen. Die Backsteinherstellung war im Vergleich zum gewachsenen Holz noch sehr teuer. Die Verbesserung der Ziegeleitechnik erleichterte dem Bauherrn die Entscheidung, ein Massivhaus zu erstellen. Handwerksmeister, die z. B. eine Baugewerksschule besucht hatten, entwickelten Prototypen für Neubauten.[10]  Die Grundform des Niedersächsischen Hallenhauses blieb erhalten und wurde zum “Standardtyp”, der von jedem Maurermeister problemlos gebaut werden konnte. Bei Neubauerhäusern wurde die Hausbreite häufig durch die Länge des Holzes eines abgebrochenen Fachwerkhauses bestimmt, übrige Maße ergaben sich von selbst. Besonders die Giebelgestaltung war Ausdruck städtischer Abbilder in Form von Lisenen, dem deutschen Band, dem Ortgang und teilweise auch durch säulenartige Eingänge. Stilelemente, von der Gotik bis zum Klassizismus, wurden für städtische Gebäude, Bahnhöfe, Postämter, Rathäuser und Industriebauten der frühen Gründerzeit als Vorbild für viele Bauer- und Neubauerhäuser verwendet.

4.3.1.   Abkehr vom Fachwerk durch Baustoff Holz

Im 19. Jh. waren die Wälder durch rücksichtslose Entnahme von Bau- und vor allem Brennmaterial in sehr schlechtem Zustand. Für den Bau eines mittelgroßen Bauernhauses verbrauchte man ca. 60 bis 70 m³ Eichenkernholz. Schlagreife Eichenstämme benötigen eine Wachstumszeit von 120 bis 150 Jahren und hätten bei Neuanpflanzungen frühestens im auslaufenden 20. Jh. genutzt werden können. Bis zur allgemeinen Kohlefeuerung wurde bis zu 90 % des Holzaufkommens für Brennholz verwandt. Im Regierungsbezirk Osnabrück schrumpfte 1785 der Waldanteil von ca. 20 % auf ca. 8,1 % im Jahr 1875, der Ödlandanteil stieg auf ca. 40 %. Die preußische Staatsforstverwaltung setzte sich für den Erhalt bzw. für Neuaufforstung privater und kommunaler Wälder ein und bot gutes Pflanzenmaterial zum Selbstkostenpreis an. Forstbesitzer waren nicht in der Lage, Pflanzen selbst zu ziehen. Der Faktor Holzknappheit und die erhöhte Brandgefahr führten langsam zur Abwendung vom Fachwerk. Verordnungen des 18. Jh. für Sicherheiten gegen Brandgefahren bei Fachwerkhäusern mit Stroh- bzw. Rohrbedachung brachten nicht den gewünschten Erfolg. Neue Maßnahmen zur Brandverhütung wurden 1830 mit Neueinstufung aller Häuser in Feuergefährlichkeitsklassen verordnet, unter Einbeziehung aller Gebäude mit feuergefährlichem Gewerbe und Weichbedachung. Alle Amtsvögte im Grönegau hatten aufgrund einer Verfügung der Regierung im Jahre 1836 den Bürgern Mitteilung zu machen, dass Häuser mit hölzernen Schornsteinen oder Lehmluken in höhere Feuergefährlichkeitsstufen einzuordnen seien. Hinter dieser Verfügung stand die Androhung der Feuersozietät, im Schadensfalle keine Entschädigungen zu zahlen. Wie ernst Brandgefahren gesehen wurden, erklärt das Gesetz von König Ernst August von Hannover im Jahre 1847 “betreffend die Bedachung der Gebäude in den geschlossenen Ortschaften des Fürstenthums Osnabrück”. In alten Hausinschriften, die teilweise über Dielentüren oder Balken optisch zur Verschönerung des Wohntraktes eingebaut waren, liegt ein tiefer Sinn, der die Lebensauffassung der bäuerlichen Vorfahren verdeutlicht und die Angst vor Gewitter bzw. vor Feuerkatastrophen zum Ausdruck bringt.

Ein weiterer Grund zur Abkehr vom Fachwerk im 19. Jh. war das Material Holz. Bauholz musste fast ausschließlich saftfrisch verarbeitet werden und bei Schwellhölzern und Rähmen bestand die Gefahr des Verwerfens. Der Schwindprozess beim Bauholz beträgt bei Fichten- und Tannenholz oft nur eine Witterungsperiode, Eichenstämme dagegen trocknen von innen nach außen pro Jahr nur um einen Zentimeter.[11] Bei Eichenständern von 30 cm Durchmesser dauert die Austrocknung 15 Jahre bei einem Schwund von ca. 2,4 cm. Schwundrisse konnten durch Ausgefachung mit Lehm relativ einfach geschlossen werden. Große Schwierigkeiten ergaben sich beim ausgemauerten Fachwerk, das von Camesasca als technisch absurdes System dargestellt wird.[12] Konstruktionsfehler bei vielen Fachwerkhäusern bestanden darin, dass keine Sperre gegen aufsteigende kapillare Feuchtigkeit vorgesehen und somit Schwellen häufig dem Verfall bzw. der Fäulnis ausgesetzt waren. Durch Bestreichen des Holzes mit heißem Teer sollte die Fäulnis verhindert werden. In Fachzeitschriften für die Landwirtschaft wurde verstärkt darauf verwiesen, dass bei Neubauten dem preiswerteren Massivbau Vorzug gegeben werden soll. Im zweiten Drittel des 19. Jh. erkannten Landwirte den Widerspruch zwischen tatsächlichen Wohnverhältnissen und Prestige. Fachwerkgiebel wurden verputzt und überkalkt oder ein zeitgemäßer Giebel in massiver Bauweise vorgebaut. Diese Modernisierung gab den Häusern einen erhofften städtischen Charakter. Es ist davon auszugehen, dass heute noch bis zu 75 % der Fachwerkbauten unter Putz liegen.

 

4.3.2.   Veränderungen der Wohnqualität und Wohnhygiene

 

Bevölkerungspolitische Ziele und Einflussnahmen des absolutistischen Staates auf Gesundheitszustände seiner Untertanen verlangten Mitte des 18. Jh. Arztberichte mit Darstellungen über Gesundheit und Krankheit. In verschiedenen Regionen wurden im Zeitraum 1750 bis 1850 intensive medizinalstatistische Untersuchungen und medizinische Ortsbeschreibungen erstellt. Durch Unterstützung der Mediziner entstand Mitte des 18. Jh. eine lebhafte zeitgenössische Diskussion um Gesundheit und Krankheit der Bevölkerung in Verbindung mit der geographischen Umwelt, bei Unterteilung in drei Bereiche:

  • klimatische Einwirkungen,
  • atmosphärisch zufällige Einwirkungen und
  • lokale Einwirkungen, die sich auf Lebensart, Nahrung, Getränke, Wohnung, Sitten und auf Naturprodukte der Gegend bezogen.

Ärzte konnten zwischen allen dörflichen Schichten differenzieren und sich über Wohn- und Lebensverhältnisse ein Bild machen. Aus einem Bericht des 18. Jh. geht hervor, dass sich im Winter Bauer und Gesinde überwiegend in engen Stuben aufhielten und sich mit Spinnen und Weben beschäftigten. “Männliche Bewohner oder Besucher dampften fast ununterbrochen stinkenden Tabak und der glühende Ofen verderbe die wenige sauerstoffhaltige Luft im Raum. Wenn am frühen Abend die Tranlampe angezündet werde, die ebenfalls einen stinkenden Qualm verbreite, könne man im Schimmer der Lampe die schlechte Luft förmlich sehen. Dazu komme noch die Ausdünstung durch die vielen Personen, so daß man sich nur wundern könne, daß nicht alle daran erstickt seien.[13] Obwohl das niederdeutsche Hallenhaus als Fachwerk eine imponierende Konstruktion der Holzarchitektur war, kann anhand der Schilderung einer Minden-Ravensbergischen Stube nicht übersehen werden, dass gerade in einem kleinen Fachwerkhaus eines Heuerlings bzw. Neubauern hygienische Verhältnisse absolut unzulänglich waren. Medizinische Zeugnisse und authentische Lebensberichte können das belegen. Problematisch war im Winter das Öffnen der Fenster, weil Nut und Federn sich bei Witterungsumschwung so veränderten, dass Öffnen und Schließen nicht mehr gewährleistet war. In kleinen Räumen, mit einer Stubenhöhe von ca. 2,00 m, wohnte und schlief der Bauer mit seiner Familie. Wenn außerdem am Ofen nasse Kleidungsstücke und Kinderwäsche getrocknet wurden, kann man sich vorstellen, wie verbraucht die Luft in solchen Räumen gewesen sein muss.

Ländliches Wohnen setzte sich deutlich vom städtisch-bürgerlichen ab. Mit aufkommender Industrialisierung trennte sich in der Stadt Arbeits- und Wohnplatz voneinander. Im ländlichen Bereich verblieb der Wohn- und Arbeitsplatz bis heute unter einem Dach und diente der groß-, mittel-, klein-, unterbäuerlichen und besitzlosen Schicht der Heuerlinge und Tagelöhner als Schutzfunktion.

In einigen Fachwerkhäusern erkrankten Bewohner an Tuberkulose und ersetzten daraufhin das Fachwerkhaus durch ein Steinhaus. Hofstellen wurden beim Neu- bzw. Umbau später so ausgerichtet, dass der Wohntrakt südlich lag und eine bessere Besonnung der Wohnräume erreicht werden konnte.

 

4.3.3.   Baumaterial und Auswirkungen ihrer Verwendung auf Baustrukturen der

Neubauerstellen

 

Die Ablösung des Fachwerks- zugunsten des Backsteinbaues vollzog sich nur langsam. In verheideten, waldfreien oder entwaldeten Gebieten wurde durch Holzschlag und Brandlegung Eiche als Bauholz knapp. Natur- und Backsteine wurden bis zum 18. Jh. lediglich als Materialersatz bei Außenmauerwerken verwendet. Grund-, Aufriss und innere Konstruktion beim niedersächsischen Hallenhaus blieben weitgehend unverändert. Selbst die Gliederung der Giebelwände zeigt bis zur Mitte des 19. Jh. noch Hauptlinien der Fachwerkkonstruktion. Später machte man sich die Tragfähigkeit der Backsteinmauer zunutze und veränderte auch den Gesamtaufbau des Hauses. In Gebieten mit Lehm- und Lössvorkommen, wie in der Samtgemeinde Riemsloh-Hoyel, gab es eine Vielzahl von Feldbrandstellen. Der einfache mit Holz befeuerte Feldbrandofen wurde oftmals direkt an einer Baustelle eingerichtet und diente zur Herstellung von Mauersteinen, Dachpfannen und Fußbodensteinen. Der Ertrag gleichmäßig gebrannter Steine einer Feldbrandstelle betrug 50 bis 66 %. Steine, die während des Brandes nah an der Feuerung lagen, waren teilweise verbrannt bzw. zeigten unterschiedliche Konturen. Dieser sog. Ausschuss wurde z. T. von Neubauern als preiswertes Baumaterial genutzt.

Friedrich Hoffmann entwickelte Mitte des 19. Jh. den Ringofen und so konnten Ziegelsteine in größeren Mengen kurzfristig hergestellt werden. Der ringförmige Ofen brachte Brennmaterialersparnis von 60 % gegenüber dem des Feldbrandes und eine bessere Qualität und Ausbeute. Im Grenzbereich zu Buer wurden Bruchsteine aus dem Düingberg als Baumaterial genutzt, die in der Samtgemeinde Riemsloh-Hoyel fast ausschließlich im Bereich der Fundamente Verwendung fanden. Im Landkreis Melle existierten im Jahr 1901 elf Ziegeleien, davon zwei in der Samtgemeinde Riemsloh-Hoyel, die außer Backsteinen auch Drainagerohre herstellten. Steine für Neubauten in der Samtgemeinde Riemsloh-Hoyel lieferten schwerpunktmäßig die Ziegeleien Heuermann in Krukum und Otte & Schweer in Westhoyel. Beide Betriebe sind ca. 1910 geschlossen worden. Die Ziegeleien im Meller Raum beschäftigten jeweils ca. drei bis sechs Arbeiter. Ein Teil davon gehörte immer zu den “Lipper Zieglern”. Tonziegeleien bekamen durch Kalksandsteinherstellung starke Konkurrenz. Die Ziegelei Hensiek in Buer hatte um die Jahrhundertwende ca. 20 Mann Belegschaft und fertigte außer roten holländischen Dachpfannen und Drainagerohren ca. 1,125 Mill. Ziegelsteine/Jahr. Der Preis für diese Steine betrug ca. 20 bis 22 Mark pro 1.000 Stück.

Seit Mitte des 19. Jh. trat im städtischen Bereich häufig ein Architekt zwischen Bauherrn und Bauhandwerksmeister. Die Bauten im hiesigen Raum führten ländliche Maurer- und Zimmermeister aus, die auch die dafür erforderlichen, oftmals unvollkommenen Zeichnungen, lieferten. Zimmer- und Maurermeister führten ihre Betriebe fast ausnahmslos ohne umfangreiche Ausbildung, weil fast alle Gebäude nach einem Schema erstellt wurden.[14] Das Einmessen des Grundstücks führte teilweise Neubauer Schweer aus Westhoyel im Auftrag der Bauern durch, einige Grundrisse zeichnete Colon Schürmann aus Hoyel. Häuser der Heuerlinge und Neubauern als einfache Standardtypen stellten keine großen Anforderungen an Bauunternehmer.

Entwicklungen im Handwerk vollzogen sich in der zweiten Hälfte des 19. Jh. unterschiedlich. Der Zimmermannsberuf war rückläufig, gleichzeitig stieg die Zahl der Maurerbetriebe bzw. Maurergehilfen, so dass zur Wende zum 20. Jh. das Baugewerbe der beschäftigungsstärkste Sektor der Handwerkswirtschaft war. Konzentration auf einen Betrieb, wie z. B. beim Zimmermeister Sieckermann in Bennien, mit einem Anteil von ca. 60 %, ist bei anderen Baubetrieben nicht erkennbar. Der Neubautenanteil der Neubauern mit Bauhandwerkern aus dem heimischen Raum betrug mindestens 84 % und stützt somit das tradierte Verhalten der unterbäuerlichen Schicht. Schwerpunkte bei der Vergabe von Bauaufträgen lagen überwiegend in der jeweiligen Gemeinde.

 

Abb. 3: Vom Fachwerk zum Steinbau, Veränderungen in drei Zeitabschnitten in der

Vogtei/Samtgemeinde Riemsloh-Hoyel 1800 bis 1905

 

Die Abkehr vom Fachwerk- zum Steinhaus vollzog sich bei Neubauern in der Vogtei/Samtgemeinde Riemsloh-Hoyel deutlich sichtbar. Im Zeitraum von 1800 bis 1835 lag der Anteil der Fachwerkbauten bei ca. 86 %. 1836 bis 1870 ging der Anteil des reinen Fachwerkbaues kontinuierlich zurück, war aber mit 68,3 % noch deutlich vorherrschend. 18,7 % des Mischbaues, d. h. halb Fachwerk- halb Steinhaus müssen differenziert betrachtet werden, zumal es sich um Häuser handelt, die bisher als Heuerlingsstellen geführt wurden bzw. als Neubauten von Neubauern erstellt worden sind. Grundlegende Änderungen erfolgten erst im 19. Jh. bei Groß- und Mittelbauern und Heuerlingsstellen mit späterer Umwandlung zu Neubauerstellen. 13 % der Steinbauten sind aus der Zeit 1850 bis 1870. Eine weitere Abkehr vom Fachwerk- zum Steinhaus ist in der Zeit 1871 bis 1905 zu erkennen. Von den insgesamt 301 Neubauerstellen waren nur noch 81 Bauten (27 %) aus Fachwerk. Der Anteil der Steinbauten ergibt sich aus 55 % (165) der Neubauten plus 21 % (62) aus umgewandelten Fachwerkhäusern, so dass der Wert mit 76 % (227) der Steinbauten fast die Dominanz des Fachwerks der Periode 1800 bis 1835 erreichte. Entwicklungen zum Steinbau lagen in der Gründerzeit, die architektonisch in den Zeitraum 1870/71 bis 1914 einzuordnen ist. Nach Gründung des Reiches setzte in den Städten rege Bautätigkeit ein. Schwerpunkt war die Schaffung von Wohnraum für expandierende Industrien in städtischen und ländlichen Bereichen und Ersatz für abgängige Fachwerkhäuser. Erstaunlich ist, dass der “neue Typ” des Steinhauses überwiegend baugleich dem des Fachwerkhauses war. Nur vereinzelte Elemente, z. B. Rundbogenfenster, Veränderungen des Ortganges, Sandstein als Geckpfahl, Andeutung des Deutschen Bandes oder das Sonnenzeichen in der Giebelspitze kennzeichneten die neue Backsteinarchitektur.

Neubauten waren in ihrer Größe, Gebäudevielfalt und Gesamtanlage abhängig von der jeweiligen Finanzkraft des Neubauern. Die Hofanlage Plohr, Westhoyel Nr. 39, bestand schon 1896 aus drei Steingebäuden. Im Haupthaus, mit klarer Trennung von Wohn- und Wirtschaftsteil, wurden Räume wie Küche, Klosett und Speisekammer als eigenständig angesehen. Der Anbau war zu dieser Zeit bereits unterteilt in Schweinestall und Vorratshaltung. Das dritte Gebäude der Hofanlage mit einer Größe von 8 x 8 m bedeutete für Neubauern eine Besonderheit. Wesentlich einfacher wurde drei Jahre früher (1893) die Neubauerstelle Bockstette, Döhren Nr. 71, als Steinhaus mit Wohn- und Wirtschaftsteil unter einem Dach gebaut. Alle Wohnräume, Kuh- und Schweineställe hatten Zugang über die zentral gelegene Diele, häufig verbunden mit starker Geruchsbelästigung in den Wohn- und Schlafräumen. Neubauerstellen sind in der Größe vergleichbar mit Heuerlingshäusern und gleichzeitig Abbild der großen Höfe. Unterteilungen in verschiedene Wohn- und Wirtschaftsbereiche bzw. in der gesamten Hofanlage wurden entsprechend der Zeit des Grunderwerbs und der eigenen wirtschaftlichen Situation gestaltet.

 

4.4.      Räumliche Veränderungen durch Neubauern

 

In einzelnen Gemeinden kam es im letzten Drittel des 19. Jh. noch einmal zu lebhafter Bautätigkeit, schwerpunktmäßig in den 1870er Jahren und um 1900. Von 1871 bis 1879 siedelten in Krukum 26 und 1895 bis 1902 in Bennien 17 Neubauern. Außerdem verkaufte das Gut Bruchmühlen 10 Kotten und ermöglichte dadurch u. a. die Gründung von Neubauerstellen. Voraussetzungen für Verteilung und Anordnung der Neusiedlungen waren:

   Verkauf von peripher gelegenen Landstücken großer Hofbesitzer,

   Abgabe von Gemeinde-, Kirchen- oder Schulbesitzgrund an Neubauern teilweise als Erbpacht bzw. als Verkauf,

   systematische Verkehrserschließung von Dorfstraßen und Siedlungswegen zu den Ländereien.

In Teilbereichen entstanden planvolle Anordnungen von landwirtschaftlichen Kleinbetrieben, überwiegend an neu angelegten oder ausgebesserten Straßen. Neubauern siedelten überwiegend in unregelmäßiger Verteilung. Die Erschließung vollzog sich in der Vogtei/Samtgemeinde Riemsloh-Hoyel bis zur Gemarkungsgrenze, die gleichzeitig politische und administrative Grenze war. Im Riemsloher Wald und teilweise in der Elseniederung fand nur eine geringe Besiedlung statt. Ehemalige Heuerlinge hatten ihren Wohnplatz an der Chaussee Riemsloh – Bruchmühlen. Um neue Stellen zu gründen, erwarben Neubauern Flächen, die Bauern nach der Markenteilung als kleine Einzelparzellen zugewiesen worden waren. Im Zeitraum 1871 bis 1905 wurde eine von Gemarkung zu Gemarkung unterschiedlich ausgeprägte Aufsiedlung deutlich.

Abb. 4: Entwicklung der Neubauerstellen in der Vogtei/Samtgemeinde Riemsloh-Hoyel bis

1905

 

In den kleinen Gemeinden Groß Aschen, Westhoyel und Westendorf verstärkte sich von 1836 bis 1870 der Trend zu Neubauergründungen. Bautätigkeiten in den Gemeinden Döhren, Hoyel und vor allem Krukum gingen von 1871 bis 1905 deutlich zurück, in Bennien blieb die Aufsiedlung in den drei Zeitabschnitten in etwa konstant.

 

Zeit Bennien Döhren Gr. Aschen Hoyel Krukum Westend. Westh. Gesamt
bis 1805 1 1 2 4
1806-1810
1811-1815 1 1 1 1 3 1 2 10
1816-1820 5 1 1 7
1821-1825 3 2 2 1 4 6 18
1826-1830 1 2 1 4
1831-1835 5 1 5 2 5 18
Zw.-Summe 11 9 9 4 6 8 14 61
1836-1840 4 2 1 7
1841-1845 7 11 2 3 23
1846-1850 2 4 2 1 9
1851-1855 1 4 1 5 4 2 17
1856-1860 3 2 10 2 17
1861-1865 7 5 2 6 20 1 41
1866-1870 6 1 2 3 11 1 1 25
Zw.-Summe 38 39 20 28 48 9 18 200
1871-1875 4 10 5 1 20
1876-1880 1 2 16 1 20
1881-1885 1 1 1 1 2 6
1886-1890 2 2 1 3 2 1 1 12
1891-1895 2 1 5 3 1 12
1896-1900 5 3 2 1 1 12
1901-1905 10 2 4 3 19
gesamt 59 48 34 37 80 20 23 301

Tab. 7: Bauten der Neubauern in der Vogtei/Samtgemeinde Riemsloh-Hoyel 1800

bis 1905, gesamt 301

 

Unterschiedlich verlief die Entwicklung in einzelnen Dekaden. Eine Zentrierung neu gegründeter Neubauerstellen im Zeitraum 1871 bis 1880 zeigte sich in Krukum mit 26 Bauten, in Groß Aschen mit sieben und mit sechs Bauten in Westendorf. Zur Konzentrierung von 17 neuen Stellen in Bennien kam es von 1891 bis 1905.

Neubauten wurden überwiegend über die heimische Sparkasse Riemsloh-Hoyel finanziert und mit hohem Anteil von Eigenleistungen gebaut. Eine Verdichtung bildete sich in der alt besiedelten Zone entlang der Hauptstraße im Ortskern Riemsloh und im Grenzbereich Döhren – Krukum. Das so vervollständigte Straßendorf Riemsloh und die zwei Haufendrubbel Hoyel und Groß Aschen bekamen ihren dörflichen Charakter, der mit wenigen baulichen Veränderungen bis zur Mitte des 20. Jh. Bestand hatte. Die drei Kirchorte Riemsloh, Hoyel und Groß Aschen wurden durch Neusiedler bzw. Neubauern erschlossen, die entweder ganz oder überwiegend gewerblich ausgerichtet waren und somit das Ortsbild vervollständigten. Merkmale dieser Dorfbevölkerungsgruppe im ausgehenden 19. Jh. waren die neuen Baustile mit überwiegend städtisch geprägtem Charakter.

Das ursprüngliche Gefüge des heutigen Straßendorfes Riemsloh muss jedoch einem anderen Siedlungstyp zugerechnet werden. Die Entwicklung ist zurückzuführen auf den Einzelhof Meyer zu Riemsloh, mit der auf das 11. Jh. datierten Eigenkirche St. Johann. Allgemein erfolgte eine Ansiedlung von Gewerbebetrieben in den Kirchdörfern auf Kirchengrund. Diese Kirchhöfer, auch “Petersfreie” genannt, standen im Schutz des Bischofs, dem sie bei Antritt der Stelle einen “Weinkauf”[15] entrichten mussten. Erste Ansiedlungen von Kirchhöfern im heutigen Riemsloh sind nicht nachvollziehbar. Sämtliche Häuser brannten im 17. Jh. ab. Neuansiedlungen auf alten Plätzen sind daher nicht belegbar.

 

Anzahl

Abb. 5: Bauaktivitäten der Neubauern in der Vogtei/Samtgemeinde Riemsloh-Hoyel

1800 bis 1905

 

Die Entwicklung zum Straßendorf begann an der südlichen Straßenseite in Döhren durch neu erbaute Kirchhöferstellen und schloss in der Zeit von 1800 bis 1905 den Straßenzug vom Unterdorf (Kirche, Erbkötter, Kirchhöfer) bis zu den Markköttern im Oberdorf. Die Haufendrubbel Groß Aschen, Hoyel und Bennien nahmen eine andere Entwicklung. Alte Bauerschaftskerne sind in ihrer Grundstruktur mit geringfügigen Erweiterungen bis heute erhalten geblieben.

 

Abb. 6: Gebäudenutzung an der Dorfstraße Krukum – Döhren ca. 1905

 

An der Dorfstraße Krukum – Döhren schlossen 32 Neubauern von 1800 bis 1905 die vorhandenen Baulücken. Von den Kirchhöfern im Umfeld der Kirche wurden drei Stellen von 1800 bis 1835 an Neubauern verkauft. Andere Kirchhöfer lösten erst im Zeitraum 1851/70, nach Vorgabe der Ablösungsgesetzgebung aus dem Jahre 1832/33, ab. Insgesamt lässt sich feststellen, dass nur drei Neubauerstellen und drei umgewandelte Kirchhöferstellen bis 1835 entstanden sind, 21 Neugründungen lagen im Zeitraum 1836 bis 1870. Zunehmend etablierte sich das nebenberufliche Handwerk, teilweise als einzelner Handwerksgeselle oder selbstständiger Meisterbetrieb. Nördlich der Dorfstraße siedelten Einzelhändler, die die Versorgung der Bevölkerung sicherten. In der Zeit von 1871 bis 1905 wurden z. B. durch Teilung der Grundstücke noch einige Neubauerstellen mit Nebenerwerb gegründet.

 

Abb. 7: Gebäudenutzung an der Dorfstraße Groß Aschen ca. 1905

 

Der Drubbel Groß Aschen entstand aus zehn Voll- und Halberben durch so genannte Wachstumsringe bzw. Wachstumszeilen von innen nach außen. Abgehende Söhne siedelten im Westen und Osten als Erbkötter, im Norden siedelten später die Markkötter in Richtung Ascher Bruch. Bei den sich entwickelnden Neubauerstellen im 19. Jh. zeigte sich eine Verdichtung im Dorfkern. Neubauern im Kernbereich boten ihre Handwerksdienste vor Ort an. Neben einer ringförmigen fand auch eine zeilenartige Ausdehnung in entsprechenden Abschnitten statt, ohne dass von gleichmäßiger Entwicklung gesprochen werden kann. Beim Drubbel Groß Aschen hat sich das ursprüngliche Gefüge der Althöfe erhalten, obwohl einige Voll- bzw. Halberbenhöfe umsiedelten. Der Ortskern von Groß Aschen besteht überwiegend aus Althöfen. Im Zeitraum von 1800 bis 1905 siedelten nur fünf Neubauern mit einem z. T. einträglichen Nebenerwerb.

 

Abb. 8: Gebäudenutzung an der Dorfstraße Hoyel ca. 1905

 

Im Kirchdorf Hoyel blieben die Voll- und Halberben mit einem Markkötter unter sich. Eine Weiterentwicklung über die Erbkötter erfolgte in Streulage in angemessener Entfernung. Ein eigenständiger Siedlungsraum der Markkötter bildete sich im Norden des Dorfes.

Im Ortskern von Hoyel bauten von 1800 bis 1835 vier, 1836 bis 1870 sechs Neubauern und nur ein Neubauer im Umfeld der Kirche. Aufgabe der Neubauern war die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und Handwerksdiensten.

In den Gemeinden Westendorf und Westhoyel, die nur in Ansätzen über eine Häufung von Althöfen verfügte, fand keine Bauerschaftsbildung statt. Bennien entwickelte sich mit Verzögerung durch den Eisenbahnbau im Jahr 1855 erst zu Beginn des 20. Jh. durch aufkommende Möbelindustrien zum zweiten Siedlungsschwerpunkt südlich der Eisenbahn. Insgesamt schloss hier eine Besiedlungsphase, die mit Ausnahme von Bennien bis nach dem Zweiten Weltkrieg Bestand hatte.[16]

 

  1. Zusammenfassung

 

Entscheidende Gründe für räumliche Veränderungen im 19. Jh. waren wirtschaftliche und soziale Entwicklungen in der Vogtei/Samtgemeinde Riemsloh-Hoyel. Die Markenteilungen von 1795 bis 1830 brachten abgehenden Söhnen die Möglichkeit, eine eigene Stelle einzurichten und sich vom Hof und somit von der Hausgemeinschaft zu trennen. Staatliche Bürokratie, orientiert am englischen Vorbild, setzte zum Ende des 18. Jh. große Hoffnungen auf Privatisierung der Marken. Die Reformen bedingten einen weiteren Landesausbau, die Steigerung der landwirtschaftlichen Produktivität und die Mobilisierung des Bodens. Deutlicher Erfolg der Reformen war überall dort zu erkennen, wo durch Zuschlagsausweisungen oder Markenteilungen Siedlungsland für die neue bäuerliche Unterschicht der Neubauern bereitgestellt wurde. In agrarisch strukturierten Gebieten der niederdeutschen Geestlandschaften, im westfälischen Hügelland und der westfälischen Bucht beschleunigte sich das Bevölkerungswachstum. Nach den Markenteilungen und der Aufhebung der Allmende wurden Ländereien für Getreideanbau genutzt und um Kartoffeln, Rüben und Wiesenheu für die Stallfütterung in den Wintermonaten einzulagern. Vollbauern mit großem Landanteil blieben in der Regel bei ihrer geschlossenen Betriebseinheit, nur abgelegene bzw. nicht gut erreichbare Parzellen standen Nachsiedlern zur Verfügung.

Im Zeitraum 1835 bis 1870 entspannte sich der Bevölkerungsdruck durch Auswanderungen nach Amerika und Abwanderungen in die sich industriell entwickelnden Städte und Ballungsräume. Die Stadt Hamburg nahm Mitte des 19. Jh. z. B. bis zu 10.000 Personen pro Jahr auf, kleinere Städte wie z. B. Osnabrück ca. 600, Hannover ca. 3.000 und Bremen ca. 5.000.

Im ausgehenden 19. Jh. von 1871 bis 1905 entwickelten sich durch Modernisierung der Landwirtschaft bei veränderten Arbeitsbedingungen weitere Neubauerstellen. Neue industrielle Zentren im Grenzbereich von Riemsloh-Hoyel boten Neubauern in Melle, Bünde und Osnabrück Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten, so dass die unterbäuerliche Schicht nicht mehr nur auf Erträge aus der Landwirtschaft angewiesen war. Diese Veränderungen führten zur Auflösung bzw. Erweiterung alter Siedlungsstrukturen. In beiden Kirchorten kam es zu erheblichen Verdichtungen. In Riemsloh vollzog sich die Ausdehnung zum Straßendorf und in Hoyel zum Haufendorf. Fortschreitende Entwicklungen im technisch-ländlichen Bereich benötigten einerseits weniger Arbeitskräfte, andererseits jedoch mehr Personal für Betreuung und Instandhaltung der Geräte und Maschinen. Schnell wachsende Nachfrage und höhere Kapital- und Qualifikationsanforderungen trugen dazu bei, dass sich Betriebe der Tischler, Drechsler, Stuhlmacher und Möbelschreiner positiv entwickelten. Noch schneller breitete sich das Baugewerbe aus und im ländlichen Bereich übernahmen Bauhandwerker den Bau neuer Häuser. Folge war höherer Geldfluss bei Handwerkern und Neubauern, der wesentlich zur verbesserten Infrastruktur innerhalb der Dörfer und Bauerschaften führte. In der Phase der Wandlung vom Agrar- zum Industriestaat sank der Anteil der Beschäftigten in der Landwirtschaft 1875 von 49 % auf 34 % im Jahre 1913. Die Einwohnerzahlen im ländlichen Raum Riemsloh-Hoyel blieben konstant, obwohl die Bevölkerung Deutschlands 1870 von ca. 40 Mill. auf ca. 50 Mill. im Jahr 1900 anstieg. Zunahmen erfolgten im letzten Drittel des 19. Jh. ausnahmslos in städtischen Bereichen. Im Raum Riemsloh-Hoyel sind nur geringe Ansätze industrieller Entwicklungen zu erkennen. Die Leinenproduktion beschränkte sich bis in das 20. Jh. auf Eigenbedarf. Im angrenzenden Ravensberger Land erfolgte im Raum Bielefeld eine Konzentration der Leinenherstellung. Die schon im zweiten Drittel des 19. Jh. einsetzende Zigarrenindustrie verlagerte die Produktions- bzw. Werkstätten in ländliche Räume, um preiswerter produzieren zu können. Neubauern profitierten davon als nebenberufliche Zigarrenarbeiter. Neubauerstellen vervollständigten das Dorfbild in Riemsloh, Hoyel, Bennien und Groß Aschen. In den Streusiedlungen Westhoyel und Westendorf kam es zu keiner zentralen Verdichtung oder Bildung eines Ortszentrums. Verstärkter Einsatz von Handwerkern trug im dörflichen Bereich wesentlich zur Auflösung von Hausgemeinschaften bei, so dass gemeinschaftliche Arbeit immer mehr in den Hintergrund trat. Neubauern waren in verschiedenen Werkstätten und Arbeitsplätzen außer Haus beschäftigt, Frauen und weitere Familienmitglieder übernahmen den landwirtschaftlichen Bereich und sicherten die Grundversorgung.

Ungünstige Verkehrsverbindungen im ausgehenden 18. Jh. haben eine industrielle Entwicklung im ländlich strukturierten Raum Riemsloh-Hoyel im 19. Jh. verhindert. Der industrielle Durchbruch für den Grönegau und das angrenzende Umland setzte erst um 1880 ein und entzog dem ländlich strukturierten Kreisgebiet “nur” Arbeitskräfte. Entwicklungen in der Holz verarbeitenden Industrie im Ravensberger Land und Grönegau haben erst im 20. Jh. Bedeutung angenommen. Baulücken wurden in den einzelnen Bauerschaften geschlossen und trugen zur Vervollständigung des Siedlungsbildes im Ortskern von Riemsloh bei. Noch freie Baulücken bzw. landwirtschaftlich ungenutzte Flächen wurden von Neubauern zur Gründung bzw. Erweiterung ihrer Hofstellen herangezogen. Der Streusiedlungscharakter der Vogtei/Samtgemeinde Riemsloh-Hoyel veränderte sich im 19. Jh. Hier wurden Weichen gestellt, die sich im ausgehenden 20. Jh. nicht nur vorteilhaft darstellen. Planungen für den ländlich strukturierten und grenznahen Raum treffen u. a. auf Schwierigkeiten bezüglich der Straßenplanung, Ver- und Entsorgung und Vorhaltung von Schulen und Versorgungseinrichtungen. Es zeigt sich, dass Entzerrungen landwirtschaftlicher Besitzungen im 19. Jh. zu Belastungen der ökonomischen Betriebsstruktur des ausgehenden 20. Jh. führten. Besitzveränderungen während und nach den Markenteilungen haben zur Entstehung und Erweiterung von Streusiedlungen im ländlichen Raum Riemsloh-Hoyel geführt.

Der typische Neubauer in der Vogtei/Samtgemeinde Riemsloh-Hoyel rekrutierte sich im 19. Jh. aus der besitzlosen unterbäuerlichen Schicht der Heuerlinge und aus abgehenden nichterbberechtigten Söhnen der groß- und mittelbäuerlichen Schicht. Diese Neubauern bewirtschafteten eine kleinbäuerliche Stelle mit ca. 1,5 bis 2 ha Ackerland und arbeiteten im Nebenerwerb überwiegend als selbstständige oder nichtselbstständige Handwerker. Die Sicherung der Existenz reichte durch beide Erwerbsmöglichkeiten in der ersten Hälfte des 19. Jh. nur zum Notwendigsten, in der zweiten Hälfte fand häufig eine Stabilisierung der wirtschaftlichen Situation statt. Wichtig für Neubauern war die gesellschaftliche Anerkennung als selbstständig wirtschaftender Landwirt. Eine Aufwertung erfuhr die unterbäuerliche Schicht der Neubauern durch die Übernahme des Begriffs “Colon”.

Ende des 19. Jh. bot die Zigarrenherstellung Arbeitsplätze in der Manufaktur, im Heimgewerbe und zu Beginn des 20. Jh. kamen Verdienstmöglichkeiten in der sich langsam entwickelnden Möbelindustrie in der Samtgemeinde Riemsloh-Hoyel und in angrenzenden Städten hinzu. Neubauern arbeiteten überwiegend als ungelernte Kräfte in Betrieben, Ehefrauen und teilweise im Haus wohnende Eltern und Kinder verdingten sich im Heimgewerbe und versorgten außerdem die Landwirtschaft. In den Weltkriegen 1914/18 und 1939/45 wurden Neubauern zur Versorgung der Gesamtbevölkerung teilweise verpflichtet, konnten aber gleichzeitig den eigenen Lebensunterhalt sichern. Gravierender Umschwung setzte ab 1960 ein, als ein Großteil der Neubauern die Landwirtschaft aufgaben, das Vieh verkauften und ihre Ländereien, sofern diese zu verpachten waren, an sich weiter entwickelnde bäuerliche Großbetriebe abgaben. Neubauerstellen selbst wurden z. T. komplett zu Wohnzwecken umgebaut und als Wohneinheiten vermietet. Der Trend verstärkte sich zunehmend, so dass von den 1800 bis 1905 entstandenen 301 Neubauerstellen im Jahr 2005 in der Samtgemeinde Riemsloh-Hoyel, heute Stadtteil Melle – Riemsloh, nur noch eine Neubauerstelle als Vollerwerbsbetrieb tätig ist.

 

Literatur:

Ahrens, H.:                  Neubauten von Bauernhöfen der Gründerzeit im Grönegau und dessen näherer Umgebung, Diss., Hannover 1990

Bäumer, H. F.:            Neubauern als raumprägender Faktor – dargestellt an der Vogtei/Samtgemeinde Riemsloh-Hoyel – Untersuchungen zu Veränderungen einer Siedlungslandschaft im 19. Jh., Diss., Melle 1999

Bäumer, H. F.:            Auswanderungen aus dem Kirchspiel Riemsloh-Hoyel im 19. Jh. nach Nordamerika, Der Grönegau, Meller Jahrbuch 2005, Bd. 23, S. 146 – 187

Camesasca, E.:         Das Haus, Bertelsmann Kunstverlag, Mailand 1968

Consbruch, G. W. Ch.: Medicinische Ephemeriden nebst einer medicinischen Topographie der Grafschaft Ravensberg, Chemnitz 1793

Germer, M.:                Fachwerksünden, Deutsches Nationalkomitee für Denkmalschutz, Bonn 1986

Fredemann, W.:         Vom Werden und Wachsen der Bauernhöfe im Grönegau, in: Grönenberger Heimathefte, Heft 2, Melle 1956

Gerlach, Ch.:              Fenster aus Westfalen, Schriften des Westfälischen Landesmuseums für Volkskunde, Detmold 1987

Herzog, F.:                  Das Osnabrücker Land im 18. und 19. Jh., Wirtschaftswissenschaftliche Gesellschaft zum Studium Niedersachsen e. V., Reihe A, Heft 40, Stalling Verlag, Oldenburg 1938

Heyse, J. Ch. A.:        Allgemeines verdeutschendes und erklärendes Fremdwörterbuch, Hahnsche Hofbuchhandlung, Hannover 1848

Wrasmann, A.:           Das Heuerlingswesen im Fürstentum Osnabrück, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte und Landeskunde, Teil I, Bd. 42, S. 53-171, Teil II, Bd. 44, S. 1-154, Osnabrück 1920/22

[1]    Unter Bauernbefreiung versteht man die Markenteilung, die Ablösungsgesetzgebung und im Weiteren die Flurbereinigung.

[2]    Herzog 1938, S. 66f

[3]    Das Haus Döhren Nr. 32 wurde 1734 vom Schuster Johann Dirk Möller vom Pastorat der Kirchengemeinde St. Johann – Riemsloh erworben, gekauft vom Großvater, Schneidermeister Joh. Christoph Engelhard.

[4]    Wrasmann 1922, S. 58 u. 60f.

[5]    ebd. 1922, S. 72

[6]    ebd. 1922, S. 95

[7]    Bäumer, H. F.: Auswanderungen aus dem Kirchspiel Riemsloh-Hoyel im 19. Jh. nach Nordamerika, Der Grönegau, Meller Jahrbuch 2005, Bd. 23, S. 146-187

[8]    Colonus (lat.) – Feldbauer, Anbauer, Acker- oder Landknechte, insbesondere Inhaber eines Colonates (Bauernstand), der seinem Gutsherrn einen jährlichen Zins oder eine zinsliche Leistung entrichten muss.

[9]    Gerlach 1987, S. 83, “Unsere meisten Bauernhäuser …. gleichen einer hohlen Rast, sind für Mensch und Vieh ungesund, unbequem und überhaupt für die Landwirtschaft übel eingerichtet. Die Wohn- und Schlafstuben sind zu enge, zu niedrig, die Fenster zu klein und oft so gemacht, daß sie nicht können geöffnet werden, um frische, gesunde Luft hineinzulassen.”

[10]  Ahrens 1990, S. 52, Bei vorgefundenen Bauten der Typen A, B und C ist Planung durch Handwerksmeister erstellt worden, lediglich Bauunternehmer Finkemeyer und Krämer (beide Bauunternehmer arbeiteten in der Samtgemeinde Riemsloh-Hoyel, Verf.) hatten Baugewerksschulen in Nienburg und Buxtehude besucht.

[11]  Ahrens 1990, S. 47; Germer 1986, S. 94

[12]  Camesasca 1968, S. 122, “Zement und Ziegel als neutrale Elemente zu benutzen, die von den Holzbalken getragen werden, die sehr viel widerstandsfähiger als jene sind, ist ein Konstruktionswiderspruch. Aber dieses Faktum zeigt auch, wie sich einige traditionelle Techniken länger als das Material selbst halten, daß sich mit der Zeit ändern muß.”

[13]  Consbruch 1979, S. 29, “Die schwarze Höhle von Calecuta kann nicht fürchterlicher sein, als eine solche Spinnstube im Winter.”

[14]  Bauunternehmer Finkemeyer, Hoyel und Krämer, Neuenkirchen, besuchten eine Baugewerksschule, Ausbildung von Kröger in Groß Aschen, Althoff in Döhren, Schmieding und Günter in Krukum ist nicht bekannt.

[15]  Weinkauf ist eine verkürzte Wiedergabe im früheren Sprachgebrauch (Weinkauf = Wiedereinkauf).

[16]  Bennien entwickelte sich aufgrund geringer Industrieansiedlungen um die Jahrhundertwende weiter in Richtung Norden zur Eisenbahn und zeigt sich heute im direkten Grenzbereich zu Westfalen als neu entstandenes Industriedorf (heutiger Stadtteil von Melle = Melle- Bruchmühlen).

Dr. Herbert F. Bäumer

Vita Herbert

Jg. 1939, Westhoyeler Straße 13, 49328 Melle – Döhren. Studium der Geographie, Arbeitslehre und Sozialkunde/Politik an der Universität Osnabrück, Promotion 1998 an der Universität Osnabrück mit dem Thema: „Neubauern als raumprägender Faktor – dargestellt an der Vogtei/Samtgemeinde Riemsloh-Hoyel – Untersuchungen zu Veränderungen einer Siedlungslandschaft im 19. Jh.“ Realschullehrer bis 1992, anschließend Realschulrektor der Realschule Buer.

Weitere Aufsätze stellt Dr. Herbert F. Bäumer  für diese Homepage freundlicher Weise zur Verfügung:

 2003 Der Grönegau, Meller Jahrbuch

 1000 Jahre Bauerschaft Meesdorf, Burschup Miärstrup

 2005 Der Grönegau, Meller Jahrbuch

Auswanderungen aus dem Kirchspiel Riemsloh-Hoyel im 19. Jh. nach Nordamerika

 2010 Der Grönegau, Meller Jahrbuch

Verkehrswege in der Samtgemeinde Riemsloh-Hoyel

 2015 Der Grönegau, Meller Jahrbuch

 Das niederdeutsche Hallenhaus in Buer und Umgebung

 2016 Der Grönegau, Meller Jahrbuch

 Stellung der Neubauern und Neusiedler in der Gesellschaft im 19.Jahrhundert